Die Rebellen haben die Macht über Tripolis. Libyens Zukunft kann Demokratie sein - oder Anarchie, meint StZ-Politikchef Rainer Pörtner.

Tripolis - Jede Revolution hat ihre magischen, ihre symbolischen Orte. Für den Revolutionär Muammar al-Gaddafi, der sich vor 42 Jahren an die Macht putschte, war der Grüne Platz mitten in Libyens Hauptstadt Tripolis ein solcher Ort. Hier hielt er viele seiner kruden Ansprachen, hier brüllten seine Claqueure die Ergebenheit zu ihrem Führer heraus. Als Sonntagnacht Rebellen auf den Platz zogen, die Herrscherporträts von den Wänden rissen und ihre eigenen Flaggen hissten, hatte sich eine neue Revolution des Ortes bemächtigt. Das Regime Gaddafi ist Geschichte.

 

Der Tyrannensturz in Ägypten und Tunesien gelang schnell und überraschend unblutig. In Libyen ist der gezahlte Blutzoll weit, weit höher. Der Kampf währte ein halbes Jahr, und noch ist er nicht ganz zu Ende. Zwischenzeitlich sah es gar danach aus, als könne der zähe, widerspenstige Gaddafi erfolgreich zurückschlagen. Ohne Hilfe der Nato wäre der Aufstand erstickt worden.

Schutz der Zivilbevölkerung

Das Militärbündnis betätigte sich als Luftwaffe der Rebellen, ihre Bombardements waren eng mit dem Vormarsch der Aufständischen koordiniert. Die Nato hat das UN-Mandat, das einen Militäreinsatz lediglich zum Schutz der Zivilbevölkerung erlaubt, weit überdehnt. Völkerrechtlich war dies mehr als bedenklich, politisch aus Sicht der Nato ohne Alternative.

Die Allianz ist de facto, auch wenn sie dies bestreitet, Partei in diesem Bürgerkrieg - zum allerersten Mal in der islamisch-arabischen Welt. Ein Scheitern der libyschen Revolution hätte nicht nur eine Frostwelle durch den Arabischen Frühling gejagt, sondern auch die Autorität der Nato dauerhaft infrage gestellt. Jetzt wird der Umsturz in Libyen stärkend wirken auf die regimekritischen Kräfte in Syrien, Jemen und den Scheichtümern auf der Arabischen Halbinsel. Aber es wird auch intensiver gefragt werden: Warum hilft die Nato nur libyschen Freiheitskämpfern mit Waffenkraft, warum nicht auch anderen?

Innerlich zerrüttetes Land

Muammar al-Gaddafi hinterlässt ein innerlich zerrüttetes Land. Libyen, das hieß in den letzten Jahren Gaddafi, Gaddafi, Gaddafi. Dort, wo es formal parlamentarische, rechtsstaatliche Strukturen gab, waren sie nur Fassade, hinter der sich die absolute Macht des Diktators und seines Clans verbarg. Selbst die traditionellen Stämme, um deren Zuhilfekommen er zuletzt bettelte, wurden durch Gaddafi entmachtet.

Wie sich das nun entstandene Machtvakuum füllt, in welcher Mischung aus alten und neuen Kräften, aus bekehrten Gaddafi-Anhängern, Mitläufern und überzeugten Bürgerrechtlern, ist völlig offen. Der Weg zu einer echten Demokratie ist ebenso möglich wie der Absturz in Anarchie, in staatlichen Zerfall. Das Land ist voll gepumpt mit Waffen, fast jedermann hat eine Pistole oder ein Gewehr zur Hand, ganze Generationen kennen nur die Sprache von Gewalt.

Wunschdenken

Die Vorstellung, unter solchen Voraussetzungen ließe sich in Kürze ein Staatsmodell westlicher Prägung etablieren, ist blankes Wunschdenken. Übermäßige, auftrumpfende Hilfe der Europäer und Amerikaner kann genau jene Kräfte schwächen, auf deren Stärke zu hoffen ist. Die Causa Libyen bleibt für Washington und Brüssel auch jetzt, wenn es um neue staatliche Strukturen geht, ein heikler Balanceakt zwischen Einmischung und Zurückhaltung.

Deutschland stand, weil es die schwarz-gelbe Regierung so wollte, im Krieg abseits. Nach dem Erfolg der Militäraktion werden sich Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Guido Westerwelle noch mehr als vorher fragen müssen, ob ihre Verweigerung richtig war. Wenigstens jetzt, wenn es um wirtschaftliche und finanzielle Hilfen geht, um die Öffnung der EU für libysche Waren, für Studenten und Arbeitskräfte sollten sie vorne dabei sein. Nur mit einem sollte uns Westerwelle verschonen - dass er sich wie im Frühjahr auf dem Kairoer Tahrir-Platz nun auf dem Grünen Platz in Tripolis als Hilfsrevolutionär bejubeln lässt.