Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Auch die Frage, ob er wenigstens seinen liebsten Bibelvers nennen könne, mag Gauck beim Rundgang nicht beantworten. „Es gibt eine goldene Regel: Wenn es eine Rede gab, gibt es keinen O-Ton mehr“, wiegelt er ab. Der im präsidialen Sog einherschreitende Ministerpräsident Winfried Kretschmann verrät wenigstens seine liebste Bibelgeschichte: die Vertreibung aus dem Paradies. Warum? „Das bedarf einer längeren Predigt“, sagt der Katholik, die er prompt kurz skizziert. Der Mensch sei zur Freiheit berufen – der Freiheit, sich zu entscheiden, erläutert Kretschmann. Dies sei ein Akt der Menschwerdung.

 

Beim Schlagabtausch mit dem Jenaer Soziologen Hartmut Rosa am Donnerstagmittag in der prall gefüllten Schleyerhalle kommt der Freiheitsprediger Gauck seinerseits auf die Vertreibung aus dem Paradies zu sprechen. In Hunderten Predigten habe er einst die Vergötzung materieller Dinge beklagt. Doch strebe der Mensch schon seit jener Vertreibung Wettbewerbsvorsprünge an. Das sei etwas Normales, hält er dem Professor entgegen, der einen „unerbittlichen Steigerungsdruck“ sowie die Angst in der Gesellschaft vor dem „kollektiven Burn-out“ beschreibt und die Politik zum Handeln auffordert.

Gauck wehrt ab: Es gebe in der Gesellschaft die Attitüde, „den Angstmodus zu beschwören, um in den Gestus der Ohnmacht zu geraten“, sagt er. Es nütze aber nichts, „in einen kulturellen Verdruss über diese Zeit zu kommen“. Das Problem sei, dass sich gerade auf Kirchentagen die „Sehnsucht nach dem Schalom auf eine zu banale Weise in Forderungen an die Politik darstellt“, liest er den Skeptikern unter den 10 000 Zuhörern die Leviten. Besonders unter Protestanten gebe es die Neigung, sich unwohl zu fühlen. „Ich danke manchmal meinem Schöpfer dafür, dass er die Katholiken erfunden hat.“ Ein Kalauer, gewiss. Doch dies auf einem evangelischen Kirchentag zu verkünden, hat sich wohl noch kein Bundespräsident getraut.