Cacau spricht im StZ-Interview über Lust und Frust der Brasilianer, Stärken und Schwächen der Deutschen sowie den ungeahnten Offensivgeist bei der WM.

São Paulo – - Deutschland gegen Brasilien – das bedeutet für Cacau neue Heimat gegen alte Heimat. In der Nähe von São Paulo ist er aufgewachsen, beim VfB Stuttgart Nationalspieler im DFB-Team geworden. „Das wird für mich ein extrem emotionales Spiel“, sagt der 33-Jährige.
Cacau, jetzt ist es so weit: Deutschland spielt gegen Brasilien – und Sie müssen sich entscheiden. Wer soll gewinnen?
Wenn das nur so einfach zu beantworten wäre. Ich hatte mir dieses Spiel im Finale gewünscht. Jetzt ist es das Halbfinale geworden. Es tut mir wirklich leid, aber ich kann mich einfach nicht festlegen.
Ein Unentschieden kann es aber nicht geben.
Ich werde mich auf jeden Fall mit der Mannschaft freuen, die gewinnt. Und ich werde gleichzeitig Mitleid mit der anderen haben. Ich bin hin und her gerissen. Ich fürchte, es wird für mich ein extrem emotionales Spiel.
Die deutschen Chancen scheinen gut. Wie betroffen waren Sie von der Verletzung Neymars?
Natürlich war das eine schlimme Nachricht. Ich hatte am Anfang nicht geglaubt, dass es so schlimm ist. Er fällt ja jetzt nicht nur für dieses Spiel aus. Das tut mir wahnsinnig leid, und ich hoffe sehr, dass er bald wieder auf die Beine kommt.
Hat sich die Stimmung dadurch verändert?
Auf jeden Fall. Für alle Brasilianer war das ein großer Schock. Die Begeisterung ist jetzt spürbar gedämpft. Vorher hatten alle geglaubt, dass Brasilien Weltmeister wird. So groß ist der Optimismus nicht mehr.
Was bedeutet Neymars Fehlen für die brasilianische Mannschaft?
Es steht außer Frage, dass es der größtmögliche Verlust ist. Das ganze Spiel war auf ihn zugeschnitten, er hat jeden Ball gefordert und auch bekommen. Aber ich sehe sein Fehlen auch als Chance. Ich glaube, dass die Spieler jetzt enger zusammenrücken und sich stärker als Mannschaft präsentieren. Bisher konnte sich das Team auf Neymar verlassen. Das ist jetzt anders.
Sind es trotzdem die Deutschen, die jetzt in der Favoritenrolle sind?
Sie wären auch dann die Favoriten gewesen, wenn Neymar mitgespielt hätte. Die Deutschen funktionieren als Mannschaft, sie spielen genau so, wie man bei einem Turnier auftreten muss: geschlossen von Position eins bis 23. Das ist ihre große Stärke. Wenn sie ihr Spiel durchziehen, haben sie große Chancen, Weltmeister zu werden.
Aber auch das DFB-Team hat bei der WM Probleme gehabt, im Achtelfinale gegen Algerien zum Beispiel.
Solche Unkonzentriertheiten sind bei einem Turnier immer dabei. Insgesamt fand ich die Auftritte trotzdem stark und abgeklärt. Es hat mich schon ein bisschen überrascht, dass die Deutschen so souverän ins Halbfinale durchmarschiert sind. Nach dem Ausfall von Marco Reus dachte ich: Oh je, das könnte böse Folgen haben.
Wie wird das Team in Brasilien gesehen?
Die Deutschen sind hier sehr beliebt – und gleichzeitig sehr gefürchtet. Aber auf eine ganz andere Art als früher. Damals fürchteten alle die Härte und die Disziplin – jetzt ist es eher die gute und oft schöne Spielweise. Die Brasilianer haben sich daher alle Gegner im Halbfinale gewünscht – nur nicht Deutschland.
Hat die WM insgesamt Ihre Erwartungen bisher erfüllt?
Sie hat alle Erwartungen sogar weit übertroffen. Die Berichterstattung war ja im Vorfeld von allen Seiten negativ. Da war immer die Rede davon, dass nichts rechtzeitig fertig werden würde, dass es überall Probleme gebe. Jetzt hat sich gezeigt, wie  reibungslos und perfekt alles läuft.
Auch sportlich sind keine Wünsche übrig geblieben.
Das stimmt. Auch in diesem Bereich hat mich die WM mehr als positiv überrascht. Ich dachte, es würde viel mehr taktiert werden. Stattdessen haben alle mit offenem Visier nach vorne gespielt.
Dabei hieß es immer, das gehe bei diesen Temperaturen gar nicht. Warum ist es anders gekommen?
Weil Brasilien das Fußballland schlechthin ist. Da werden plötzlich ungeahnte Kräfte frei, da will jeder mitspielen und gut aussehen. Die Atmosphäre in den Stadien, die Wärme und die Begeisterung der Menschen – ich glaube schon, dass das auf die Spieler ausstrahlt.
Beim Confedcup vor einem Jahr hatte es eine große Protestwelle gegeben, Sie hatten sich solidarisch erklärt. Warum ist es bis jetzt so ruhig geblieben?
Viele von denjenigen, die zu Beginn der WM auf die Straße gegangen sind, wollten nicht das, was die meisten Menschen hier fordern. Ihnen ging es eher um Krawall und Gewalt. Damit wollten die Familienväter aus der Mittelschicht, die noch im Vorjahr ihren großen Frust zum Ausdruck gebracht hatten, nicht in Verbindung gebracht werden. Deshalb sind sie diesmal weggeblieben.
Den Frust aber gibt es immer noch?
Ja, und zwar bei einem großen Teil der Bevölkerung. Dass es ruhig geblieben ist, darf nicht davon ablenken, dass in Brasilien mehr für Bildung, Gesundheit und Verkehrsinfrastruktur getan werden muss. Jetzt wollten hier viele die WM und den Fußball genießen. Sie freuen sich darüber, dass das Land international so positiv dargestellt wird. Aber nach der WM werden die politischen und gesellschaftlichen Probleme wieder ein Thema sein. Deshalb wünsche ich mir, dass die Leute bei der Präsidentenwahl im Oktober die richtige Antwort geben.
Wird sich Brasilien durch die WM verändern?
Nein. Eine Veränderung funktioniert nur von innen nach außen, nicht umgekehrt. Ich hoffe, dass sich die Menschen endlich ins Bewusstsein rufen, was für das Land wichtig ist. Zum Beispiel, dass es mit der Korruption nicht weitergehen kann.
Macht es Sie trotzdem stolz, wie die WM bisher gelaufen ist?
Stolz macht mich vor allem, wenn ich die vielen Besucher höre, die davon schwärmen, wie gastfreundlich die Brasilianer sind und wie schön das Land ist. Aus den Zeitungen und vor dem Fernseher kann man sich ja kein richtiges Bild machen. Diejenigen, die jetzt hier waren, sagen: Brasilien ist ein tolles Land, und die Mensch hier sind total nett. Darüber freue ich mich sehr.
Wie lange sind Sie eigentlich noch da? In den Vereinen hat bereits die Saisonvorbereitung begonnen.
Ich weiß leider noch immer nicht, wie und wo es bei mir weitergeht. Während der WM ist das auch schwierig, da bewegt sich auf dem Transfermarkt wenig. Die Vereine warten ab, welche Überraschungen sie aus dem Hut zaubern können. Auch ich muss daher warten.
Aber Sie wären fit genug, um gleich wieder einzusteigen?
Ich denke schon. Jedenfalls habe ich sehr viele Dauerläufe gemacht.