Zu seinem Abschied aus Stuttgart erzählt Christian Spuck einen Krimi: „Das Fräulein von S.“ nach E. T. A. Hoffmann – ein Triumph für den Choreografen.

Stuttgart - Ein elektronischer Donnerschlag grollt, während sich der Vorhang hebt und den Blick freigibt auf das in verdrehten Posen verharrende, ganz in schwarze, barock anmutende Kostüme (von Emma Ryott) gewandete Corps de Ballet. Die Schauspielerin Mireille Mossé beginnt, die sich zur Zeit von Ludwig XIV. abspielende Geschichte um eine rätselhafte Serie von Juwelenmorden zu erzählen. Die Tänzer setzen sich in Bewegung, um gleich darauf wieder zu erstarren, sich an die zierlichen weißen Rokokotischchen anlehnend, die abgewinkelten Hände unter die Plexiglasboxen auf den Tischen steckend. Dann wird die Erzählung wieder aufgenommen, der Tanz ebenfalls, beides in einem rasanten Tempo.

 

Man kennt diese wie erstarrten Tableaus aus anderen Stücken von Christian Spuck. Aber trotz dieses Schon-einmal-gesehen-Effekts ist dem Choreografen mit der Auftaktszene des Handlungsballetts „Das Fräulein von S.“, das jetzt im Stuttgarter Opernhaus uraufgeführt wurde, wieder ein bildmächtiger, interessanter Einstieg in das Geschehen gelungen. Und diese Spannung bleibt auch über die neunzig Minuten der Aufführung nahtlos erhalten.

Ein Abschiedsstück

Es ist Spucks vorerst letzte Produktion für das Stuttgarter Ballett, bevor der Hauschoreograf als Ballettdirektor nach Zürich wechselt – eine Art Abschiedsstück also. Doch schon in seinem ersten großen narrativen Stück „Lulu“ nach Wedekind im Jahr 2003 war im Grunde schon alles vorhanden, was den fabelhaften Geschichtenerzähler Spuck auch heute noch ausmacht: eine komplexe literarische Vorlage, das sinnfällige Zusammenspiel von Tanz, Musik, Sprache, Ausstattung und Medien, die in Bann ziehenden, fast filmischen Bilder, die emotional packende Erzählweise und der fein ziseliert zum Zeitgenössischen hin abgewandelte Spitzentanz mit dem elaborierten, gelegentlich manieriert wirkenden Spiel der Arme und Hände.

Dies sind auch die Ingredienzen seiner jüngsten Inszenierung nach E.T.A. Hoffmanns Krimierzählung „Das Fräulein von Scuderi“. Spuck hat jedoch seinen typischen Stil weiterentwickelt und verfeinert. Er findet immer neue Variationen, und vor allem gelingt es ihm, die theatralen Mittel in den Dienst der Geschichte zu stellen. Abstrakte Themen und Erzählweisen sowie das Nachdenken über das Erzählen selbst sind dabei in den Fokus gerückt.

Eine Tanz- und eine Sprechrolle

In „Das Fräulein von S.“ hält die Dichterin Madeleine de Scuderi die Fäden der Geschichte in der Hand. Spuck splittet die Figur in eine Tanz- und eine Sprechrolle. Die Szene mit ihrer Ausstrahlung beherrschend, schreitet Marcia Haydée als 73-jährige Madeleine de Scuderi über die Bühne, beobachtet das Geschehen, während die französische Schauspielerin Mireille Mossé, im Stück nur S. genannt, der Schriftstellerin die Sprache verleiht. Sie stellt die Protagonisten vor, den von seinem Schmuck besessenen Goldschmied Cardillac (Marijn Rademaker), seine Tochter Madelon (Katja Wünsche), seinen Gehilfen Olivier Brusson (William Moore), der wiederum der Geliebte von Madelon ist, die Vertreter von Justiz und Polizei (Damiano Pettenella, Jason Reilly, Matteo Crockard-Villa), die die Morde aufklären sollen, den König Ludwig XIV. (Arman Zazyan) und seine Mätresse de Maintenon (Daniela Lanzetti). Ob Solisten oder Corps de ballet: das gesamte Ensemble tanzt ungeheuer ausdrucksstark und technisch brillant.

Raffinierten Inszenierungsideen

Auf das Kommando der Erzählerin hin bildet sich im Tanz die Handlung heraus – und als mit Tanz und Sprache beschrieben wird, dass der Goldschmied Cardillac die Morde an den Besitzern der Juwelen begeht, weil er partout nicht von seinen Schmuckstücken lassen kann, hat schließlich S. das funkelnde Collier in der Hand. Eine Reflexion über das Erzählen, über Kunst und Künstlertum, über Wirklichkeit und Fiktion hat der Choreograf dergestalt in das Stück integriert – und er hat zugleich nachvollziehbar die Handlung erzählt.

Mit einer raffinierten Inszenierungsidee macht Spuck Cardillacs Besessenheit von seiner Kunst anschaulich. In großen Plexiglaskästen werden Diamant, Rubin, Saphir und Smaragd herbeigefahren, dargestellt von den Tänzerinnen Alicia Amatriain, Anna Osadcenko, Myriam Simon und Angelina Zuccarini in tellerförmigen Glitzer-Tutus. Marijn Rademakers Cardillac bittet sie daraufhin zum Tanz.

Rasantes Tempo

Während sich im ersten Akt das Geschehen in rasantem Tempo abspielt, Ensembleszenen, Soli und Duette schnell wechseln, stimmig musikalisch begleitet von einem auf der Bühne postierten Streicherquartett, kommt im zweiten Akt die Szene zur Ruhe. Sie ist jetzt ganz auf den abstrakten Tanz konzentriert. In so ästhetischen wie bewegenden Duetten tanzen lediglich Marijn Rademaker, Jason Reilly (als Gerichtspräsident La Regnie) und William Moore mit Alicia Amatriain (Diamant), Anna Osadcenko (Rubin) und Katja Wünsche, akkompagniert von einem Herrensextett und den in gegenläufiger Richtung vor der Leinwand über die Bühne schreitenden Darstellerinnen Haydée und Mossé. Das von James Tuggle geleitete Staatsorchester spielt dazu Minimalklänge von Philip Glass und Michael Torke. Immer wieder schieben sich elektronische Sounds von Martin Donner atmosphärisch dicht zwischen die Kammer- und die Orchestermusik.

„Ein Liebhaber, der die Diebe fürchtet, ist der Liebe nicht würdig“ – dieses Zitat aus Hoffmanns Erzählung ist auf Französisch auf die Leinwand projiziert. Geht es hier um die Liebe zwischen Madelon und Brusson? Um die fanatische Besessenheit Cardillacs von seiner Kunst? Oder gar um den Justizvertreter La Regnie, der ebenfalls dem Glanz der Juwelen verfallen ist? Die Inszenierung lässt das vieldeutig offen.

Der finale dritte Akt ist dann wieder turbulent, temporeich und mit dem nun in prächtige Kostüme im höfischen Stil gekleideten Corps de Ballet groß besetzt. Die Erzählerin präsentiert die Auflösung der verwickelten Geschichte: der fälschlicherweise der Morde bezichtigte Olivier Brusson kommt frei. Liebe und Tugend haben gesiegt, dank des Einsatzes der Scuderi. Aber es bleiben wie immer schön schillernde Mehrdeutigkeiten: Reillys La Regnie ersticht die Erzählerin. Und deren fast hämisches, lautes Lachen bildet den Schlusspunkt in diesem Handlungsballett von Christian Spuck, den man nur ungern ziehen lässt.

Die weiteren Aufführungen am 16., 19. und 24. Februar, am 12., 29., 31. März sowie am 8. April sind ausverkauft. Restkarten eventuell an der Abendkasse.