Nichts für Kinder: Armin Petras inszeniert das „Kalte Herz“ im Stuttgarter Staatstheater. Im Märchen herrschen Riten und Mythen. Immer wenn der Zuschauer glaubt, er hätte verstanden wie der Regisseur die Geschichte erzählen möchte, zerschlägt er sie wieder.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Armin Petras erzählt im Stuttgarter Staatstheater vom „kalten Herz“. Es gibt bekanntlich ein Märchen von Wilhelm Hauff gleichen Namens, ein romantisches Stück aus dem Schwarzwald, es dient dem Regisseur als Stofflieferant. Das Herz ist kalt, weil mittels Zauberei das lebendige Organ gegen einen toten Stein vertauscht wurde. Und just dieser Objekttausch wird zum zentralen Bild des Abends, zum Dreh- und Angelpunkt, zum Motor. Da klopft und pocht sie dann auch selbst, die große Theaterbilderfabrik.

 

Der Kohlenmunk Peter hat’s an dieser Stelle der Geschichte wirklich gründlich vermasselt. Sein erster Versuch, der tiefsten Armut zu entkommen, sein erster Pakt mit einem Geistwesen dieser Gegend, dem Glasmännlein, ist dank fortgesetzter eigener Dummheit schief gegangen. Die Schuldscheine mehren sich, der Amtmann ist schon auf dem Weg. Ganz vorn an der Bühne steht Johann Jürgens, irgendwann bis auf die Unterhose ausgezogen, ein armer Wicht, ein dummer Tropf. Keine Sympathie für ihn, schon gar nicht im Publikum, nirgends.

Der Kohlenmunk tauscht sein Herz gegen einen Stein

Und dann kommt aus der Tiefe der Stuttgarter Bühne eine dunkle Gestalt geradezu herbeigeschwebt, ein Dämon unserer trübsten Sehnsüchte, ein Teufel als Retter in der Not: Wolfgang Michalek als Holländermichel. Er verspricht das Maximum, den Erfolg, er verspricht vor allem Millionen. Eben diese Millionen sind es, die den Kohlenmunk überzeugen, dasjenige zu geben, was der Michel als einzige Gegenleistung verlangt: das pochende, fühlende, im Zweifel mitfühlende, also mahnende Herz. Einen kalten Stein bekommt Peter dafür in die Brust, wie ihn schon so viele andere Erfolgreiche im Schwarzwald und überall in der Welt tragen und wie man ihn wohl tragen muss, wenn man hemmungslos den Anderen ihren Teil der Welt entreißt, um selbst recht viel davon zu verzehren.

Wie der Holländermichel schließlich das Herz in Händen hält, wie er es betatscht und anschleckt, wie er beginnt, „I’m waiting for the Man“ anzustimmen, diesen wüsten alten Song von Velvet Underground, wie Wolfgang Michalek dazu mit dem irgendwie wohl auch verbündeten Glasmännlein (Berit Jentzsch) eine zackige Showbühnen-Choreografie hinlegt – just da hat man als Zuschauer des Spektakels jenen kostbaren Theatermoment, da man meint, etwas Wichtiges im Kern erfasst zu haben. Ja, genau, so kann man das sehen, dieses alte romantische Märchen vom großen Romantiker Wilhelm Hauff: das „kalte Herz“ nicht als Überbau, sondern als Basis eines sich ebenso derb wie dreist herzlos gebärdenden Kapitalismus.

Kein beschauliches Märchen

Das alles ist ganz sicher kein Abend für die ganze Familie. Hier ist nichts beschaulich, possierlich, angenehm gruselig oder anderweitig nett. Petras will dem Märchen und dem Schwarzwald jede Nettigkeit geradezu austreiben. Hier herrschen Riten und Mythen, hier wird gejagt und überwältigt, hier wird getanzt und gestampft und geschrien und krakeelt, bis jeder letzte Rest von Verstand über dem Feldberg verfliegt. Und immer, wenn man als Zuschauer gerade glaubt, endlich verstanden zu haben, welche Form der Regisseur seiner Erzählung denn nun geben will, zerschlägt er sie auch schon wieder und ruft: Denk doch gefälligst selbst!

Mal gewährt er poetisch-kraftvolle Bilder, da zündet das Glasmännlein Wunderkerzen, verbrennt der Michel die Geldscheine. Zauber. Dann zerdeppert aber auch schon wieder einer das Mobiliar und schreit sich die Seele aus dem Leib. Gerade hat Caroline Junghanns als Lisbeth noch einen gefühlvollen Song gesungen („Ich wollt‘, ich könnt ein Lied dir singen / So voller Glut, so voller Klang“; die Bühnenmusik stammt von Miles Perkin) und man denkt, ach, sieh an, ein Musical. Und dann stürmt auch schon in bunter Tracht die echte Volkstanzgruppe Frommern vom Schwäbischen Albverein aus Balingen auf die Bühne und veranstaltet mit Tröten, Trommeln und Schalmeien und unter Einbeziehung großer Teile der Zuschauerschaft eine Riesendorfsause. Und dann sinniert man natürlich, na gut, wohl doch mehr ein Mitmachtheater.

Immer wieder wird der Zuschauer überrascht

Es wird hier improvisiert und gealbert, parodiert und genervt, dass sich die Fichten biegen. Ständig ist man deshalb kurz davor, das ganze Projekt verloren zu geben. Aber dann kommt plötzlich wieder ein Bild als Ruhepunkt, ein Augenblick, der alles klärt, der vor allem dieses ganze Panoptikum einfängt und ordnet. „Gib sie mir! Ich will sie! Das ist meins!“ ruft da immer wieder Christian Schneeweiß, der Tanzbodenkönig, schreit offenbar nach seinem Besitz - und meint doch einen lebenden Menschen, die Lisbeth.

Das trifft nun tief und genau, denn so ist das wohl, wenn das Denken in Waren und Eigentum auch das Emotionale prägt und zerfrisst. An solchen Stellen ist es müßig zu fragen, ob Hauff das einst wohl auch so gemeint oder auch nur gekannt hat. Wir heute kennen es jedenfalls. Das zeigt Petras.

Nein, das alles ist weder rund noch in sich geschlossen. Es ist kantig, eckig, sperrig, scharf, so, wie es Petras in seinem Theater will und wie er es immer bis zum kritischen Punkt ausreizt. Gern auch mal darüber hinaus, weil dieses Theater nämlich anders als die deutschen Biathleten sein Doping nicht nur aus Müsliriegeln bezieht, sondern aus den Widersprüchen des und am Realen.

Düsteres Ende

Es ist darum auch nur konsequent, dass es die Geschichte nach der zentralen Herzentnahme zügig zum düsteren Ende bringt. Kohlenmunks kleine Welt geht unter. Schwarz und rußig von Schuld und seelischer Armut ist schließlich sein Gesicht, schwarz und rußig sind die Gesichter aller Spieler, die ins schwarze Parkett starren. Da fahren sie dann hinab in den Abgrund. Kommt dort das Gericht? Das ist völlig egal, denn dank ihrer kalten Herzen fürchten sie ja auch schon lang kein Gericht mehr.

Das schöne Märchenende von Wilhelm Hauff kommt dann nur noch aus dem Lautsprecher, von der alten, knisternden Kinderschallplatte. Der Holländermichel grinst sich eins. Starker Beifall für alle Akteure, danach auch kräftige Buhs für das Regieteam. Aber mal ehrlich: wer buht denn da? Armin Petras hat uns nie einen Märchengarten versprochen.