Deutschland solle wieder „,mehr Verantwortung übernehmen in der Welt“ fordern Politiker angesichts der bewaffneten Konflikte in zahlreichen Ländern. Dass dieses Beteiligung Opfer kostet, wird dabei gern verschleiert.

Stuttgart - Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind mindestens 25 Millionen Menschen in Kriegen gestorben. Sie wurden durch Granaten zerfetzt, sie wurden erschossen, sie verhungerten, sie verreckten, weil sie keine Hilfe bekamen. Dazu kommen all jene, die zu Krüppeln wurden, die bis an ihr Lebensende an ihren Verletzungen litten. Ungezählt blieben jene, die gefoltert wurden, die Frauen, die vergewaltigt wurden.

 

Eine Statistik zählt, je nachdem, wo man die Grenze zwischen Aufständen und Bürgerkriegen zieht, zumindest weit mehr als hundert kriegerische Auseinandersetzungen – Kriege und Bürgerkriege – seit 1945. Unter ihnen sind 19 große Kriege, von denen jeder geschätzt mehr als 500 000 Todesopfer gefordert hat. Einzelne dieser Kriege, der Vietnam-Krieg zum Beispiel, haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Andere, der 2. Kongokrieg beispielsweise, wurden in Deutschland kaum wahrgenommen. Dort sollen nach sehr unsicheren Hochrechnungen zwischen 1998 und 2003 vier Millionen Menschen oder mehr gestorben sein, tendenziell mehr als während des zwanzig Jahre währenden Vietnamkriegs. Im Kongo kamen freilich die Wenigsten unmittelbar durch den Waffeneinsatz zu Tode, die Meisten verhungerten oder starben, weil im Krieg jede medizinische Versorgung zusammengebrochen war.

Die Opfer der Kriege hinterlassen Angehörige und Familien, die darben, weil der Ernährer fehlt, die nichts mehr haben, von dem sie leben können. Die Kriegsherren vertreiben Millionen, oft ganze Völker aus ihrer Heimat. Diese Flüchtlinge vegetieren oft über Generationen hinweg ohne Hoffnung in Lagern. Das Hab und Gut der Menschen, Hütten und Häuser werden zerstört; ganz Städte werden ausradiert, die Infrastruktur ganzer Länder vernichtet. Der Reichtum und das Vermögen ganzer Völker gehen zugrunde.

Viele von denen, die das Glück haben, aus dem Krieg zurückzukehren, verzweifeln an dem, was sie getan und erlebt haben, viele werden wahnsinnig, einzelne werden zu Mördern. Die Nöte der vermeintlichen Helden werden verdrängt und vergessen, sobald sie als Kämpfer nicht mehr taugen. Oft werden sie zu Paria. Der Krieg verroht nicht nur Einzelne, er verroht ganze Gesellschaften, die nur scheinbar nicht begreifen können, was in Abu Ghraib geschehen ist – zu Zeiten Saddam Husseins und später während der US-Besatzung.

Von der Hölle des Krieges

Trotz all dem fordern wichtige Politiker und einflussreiche Intellektuelle jetzt, Deutschland müsse wieder „mehr Verantwortung übernehmen in der Welt“. Und sie umschreiben mit dieser wohlklingenden Formulierung ihre Forderung, Deutschlands Soldaten sollten sich wieder an mehr Kriegen beteiligen. Zumindest aber solle sich Deutschland an den Kriegen indirekt beteiligen, indem es seine Zurückhaltung – soweit noch vorhanden – bei Waffenexporten in Krisenregionen aufgibt.

Das gemeinsame „Papier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und des German Marshall Fund of the United States (GMF)“ mit dem Titel „Neue Macht, neue Verantwortung“ haben viele namhafte deutsche Wissenschaftler, Vertreter der Ministerien, Politikberater, Interessenvertreter erarbeitet. Dort ist nicht von der Hölle des Krieges, aber viel von den westlichen Werten die Rede. Die Autoren benötigen 43 Seiten voll kluger und glatt gestrichener Sätze, um zu dem für sie entscheidenden Ende zu kommen: „Europa und Deutschland müssen daher Formate für Nato-Operationen entwickeln, bei denen sie weniger auf US-Hilfe angewiesen sind. Das verlangt mehr militärischen Einsatz und mehr politische Führung. Vor allem muss Europa mehr Sicherheitsvorsorge in der eigenen Nachbarschaft betreiben; das ist Europas ureigenste Verantwortung. Deutschland muss dazu einen seinem Gewicht angemessenen Beitrag leisten.“

Es sind die Kinder der Bürger, vor allem aber der Ärmeren und der Schwächeren, die in den Krieg geschickt werden. Die Eliten einer Gesellschaft, jene die den Krieg herbeigeschrieben und vorbereitet haben, die ihn befehligen, bleiben meist in der Etappe. Wer General geworden ist, stirbt nicht mehr im Feld. Einen Krieg gar politisch zu verantworten, bietet die größten Chancen, ihn – samt Alimentation – gut zu überleben. Die, die das Wissen, die Macht und das Geld haben, haben die besten Möglichkeiten ihr Hab und Gut rechtzeitig vor einer Vernichtung in Sicherheit zu bringen, ihr Vermögen in der Ferne zu bunkern.

Zu jedem Krieg gehören auch die Kriegsgewinnler, die an ihm verdienen, ihre Kriegsdividende einstreichen. Und wie! Viele verdienen gleich doppelt, erst am Verkauf der neuesten Waffensysteme und dann noch einmal am Wiederaufbau der verwüsteten Länder. Im Irak meucheln dschihadistische Desperados mit neuestem US-Militärgerät hilflose Opfer und werden gleichzeitig selbst mit US-Drohnen bekämpft. Die Waffenindustrie sichert Arbeitsplätze. Ein Teil unseres Wohlstands gründet sich darauf.

Gibt es den „gerechten Krieg“?

Nie wieder Krieg! Das Gefühl, die Menschlichkeit, das Mitleid bekennen sich zu diesen Satz. Der Pazifismus lässt sich auch überzeugend begründen. Was aber sagen wir den Jesiden, die nichts als die Alternative haben zu fliehen oder ermordet zu werden? Was sagen wir all den Menschen, die in den schlimmsten Diktaturen der Welt alltäglich nicht nur Unterdrückung, sondern Gewalt erdulden? Was sagen wir denen, für die in den Kerkern der Tod tatsächlich nur noch die Erlösung von der Folter wäre? Soll man den Kämpfern des arabischen Frühlings, nachdem man die Ergebnisse sieht, sagen, sie hätten das Falsche und etwas Unverantwortliches getan, weil ihre alten Gewaltherrscher wenigstens für Stabilität in der Region gesorgt hätten?

Gibt es ihn nicht doch, den „gerechten Krieg“? Und wenn nicht ihn, dann zumindest den gerechtfertigten Krieg?

Es ist ja wahr, jeder Krieg ist ein Beleg für das Versagen der Diplomatie. Und doch ähnelt dieser Satz bisweilen einer frommen Lüge. Mit Dschihadisten, die bereits Waffen haben, kann man Konflikte nicht mehr auf diplomatischem Wege lösen. Es hätte lange zuvor einer vernünftigen Regierung bedurft, die verhindert hätte, dass sie erstarken. Ein Adolf Hitler hätte sich vom Völkermord nicht abbringen lassen, selbst wenn man seine Gefährlichkeit rechtzeitig erkannt und darauf entsprechend reagiert hätte. Allenfalls vor seiner Machtergreifung hätte eine seherische Diplomatie eine reelle Chance gehabt.

Ja, der Krieg gegen Hitlers Deutschland war ein gerechter Krieg – nach den Standards, die damals galten und die auch heute noch gelten. Er war ein unvermeidlicher Krieg. Und er ist zu einem guten Ende gekommen, weil er unzählige Menschen befreit hat, auch die Deutschen. Er war ein gerechter Krieg, obwohl auch die Alliierten Kriegsverbrechen begangen haben, beispielsweise die Bombardierung Dresdens. Bei keinem Krieg seitdem war dies so eindeutig und klar.

Es gab einige Kriege, die als Befreiungskriege begonnen haben. Der Guerillaführer Che Guevara, diese Ikone der Freiheitskämpfer, hatte zu Beginn alle Argumente für sich: Zu groß war das Unrecht, zu groß war das Ausmaß der Ausbeutung und der Unterdrückung. Doch dann folgte er den Gesetzen des Krieges, des Bürgerkriegs, des Unrechts, des Grauens.

Es gab einige Kriege, die als Verteidigungskriege begannen. Doch bei den meisten Kriegen war zwar viel von Gerechtigkeit und von Werten, vor allem den westlichen Werten, die Rede, im Kern aber war es ein Ringen um politische Macht und Vormacht, standen wirtschaftliche Interessen, und oft genug dabei das Öl im Vordergrund.

Die Politiker und ihre Berater wissen das. Längst hat sich die Staatengemeinschaft formal Regeln gesetzt, die den Krieg domestizieren, ihm einen Teil des Schreckens und der Willkür nehmen würden. Die Vereinten Nationen sollten zum Weltpolizisten werden, dem allein das Recht übertragen werden sollte, Krieg zu führen, um Frieden zu stiften, auch um Völkermord zu verhindern. Es gelingt nicht. Zu viele Interessen, zu viel Machtkalkül, zu mächtige Lobbygruppen stehen dagegen.

Die UN werden ihre Aufgabe noch auf lange Zeit nicht erfüllen können. Jeder weiß das. Man könnte das ändern, wenn man nur wollte. Es genügte, wenn sich zunächst die mächtigsten Staaten darauf einigen könnten. Sie wollen es nicht.

Stattdessen wird es weiterhin Kriege geben, so wie wir sie kennen. Mit all dem Elend, an das wir uns gewöhnt haben. Mit der bekannten Verlogenheit. Und mit all den Profiteuren, an die wir uns auch gewöhnt haben. Und immer wieder auch mit dem Skrupel jedes Skeptikers, auch vieler Pazifisten, ob nicht gerade dieser Krieg doch ein gerechter sein könnte.