Stuttgart braucht einen neuen Baubürgermeister. Die Grünen im Gemeinderat sind am Zug und wollen einen der Ihren auf den Schild heben. Dringend nötig ist aber ein offenes Bewerbungsverfahren. Ein Debattenbeitrag von Amber Sayah.

Stuttgart - Die Stelle des Baubürgermeisters ist ein politisches Amt. Wenn die Grünen im Stuttgarter Gemeinderat nun für die Nachfolge des vorzeitig sich in den Ruhestand verabschiedenden Amtsinhabers Matthias Hahn von ihrem Vorschlagsrecht Gebrauch machen, dann ist dagegen gar nichts einzuwenden. Ihre Weigerung allerdings, über einen anderen Kandidaten als den eigenen Fraktionsführer auch nur nachzudenken, schlägt alle Bräsigkeitsrekorde in dieser an politischen Bräsigkeitserfahrungen nicht gerade armen Stadt. Selbst die laue Scheindebatte, ob der Posten nicht doch vielleicht einer Frau zustünde, macht dieses unsägliche Geschacher nicht besser. Denn ob nun eine Besetzung nach Parteibuch oder nach Quote – an der Sache geht das eine wie das andere meilenweit vorbei.

 

Auf dem Spiel steht nichts weniger als die Zukunft der Stadt, ihr Erscheinungsbild, ihre soziale, wirtschaftliche, kulturelle, demografische und ökologische Lebenswirklichkeit heute und morgen, die in jeder Hinsicht mit ihrer baulichen Entwicklung untrennbar verbunden ist. Dass junge Familien in Stuttgart keinen bezahlbaren Wohnraum finden, wie der noch amtierende Baubürgermeister in einem Gespräch mit dem Fachmagazin „Bauwelt“ unlängst freimütig eingeräumt hat, dass der Einzelhandel in der Innenstadt nach der investorenhörigen, in zwei Mega-Shoppingcentern kulminierenden Schuster-Ära auszubluten droht, dass Stuttgart im Feinstaub erstickt, sind nur einige wenige von vielen schwierigen Problemen, die der neue Baubürgermeister anzupacken hat. Mit ein bisschen Kosmetik, das zeigen die paar Beispiele aber deutlich genug, kommt man nicht weit. Der beste Mann oder die beste Frau wäre für den freiwerdenden Posten folglich gerade gut genug, und um den oder die zu kriegen, braucht es ein Bewerbungsverfahren – so wie es in anderen Städten selbstverständlich längst praktiziert wird.

In Hamburg beispielsweise hatte der Senator Willfried Maier, ein Grüner übrigens, eine sechsköpfige Findungskommission eingesetzt, als es den Posten des Oberbaudirektors neu zu besetzen galt. Diese entschied sich unter zwanzig Bewerbern für den Stadtplaner Jörn Walter, einen hochqualifizierten Beamten, der bundesweit von Architekten und Kollegen in den Rathäusern für seinen Weitblick und seine Durchsetzungsfähigkeit gerühmt wird. Die Hafen-City und die Internationale Bauausstellung, mit der 2014 der „Sprung über die Elbe“ zum abgehängten Stadtteil Wilhelmsburg gelang, wären ohne sein Wirken nicht denkbar. Walter rechnet es sich, nebenbei bemerkt, auch als Erfolg an, ein ECE-Center in Hamburg verhindert zu haben, während man sich in Stuttgart – Gipfel der politischen Debattenkultur – um die Anzahl der Parkplätze im Milaneo stritt.

Ulm macht es besser

Man muss aber gar nicht so weit nach Norden schauen. Es reicht der Blick nach Ulm, wo an diesem Mittwoch der Nachfolger/die Nachfolgerin des langjährigen Baubürgermeisters Alexander Wetzig gewählt wird. Unter anfänglich siebenundzwanzig Kandidaten sind dort nach zwei Vorauswahlrunden im Gemeinderat nun drei Bewerber im Finale. Wer das Rennen am Ende auch macht, er oder sie tritt in große Fußstapfen. Denn Wetzig war ein ebenso starker wie engagierter Baubürgermeister, der das Bild der Stadt entscheidend beeinflusst hat. Unter anderem geht die neue Ulmer Mitte, eine der erfolgreichsten Stadtreparaturen in Deutschland, die aus der Verkehrsschneise Neue Straße, einem Relikt der autogerechten Stadt der Wiederaufbauzeit, ein urbanes, die Stadträume um Münster und Rathaus verknüpfendes Zentrum gemacht hat, auf sein Konto. Muss man an dieser Stelle erwähnen, dass Stuttgart noch immer ein abgasgeschwängertes Stück Stadtautobahn schönfärberisch „Kulturmeile“ nennt? Muss man nicht. Diese wahrhaft antike Altlast erbt der nächste Baubürgermeister auch.

Mit all dem, sowohl der Neubesetzung des Baubürgermeisterpostens als auch der städtebaulichen Entwicklung, „liegt Stuttgart weit hinter dem zurück, was selbst Klein- und Mittelstädte auf die Reihe kriegen“, kritisiert der Stadtplaner Franz Pesch. „Stadtentwicklung geht anders.“

Zum nicht geringen Teil gehen die heutigen Defizite darauf zurück, dass Matthias Hahn, vormals Fraktionsvorsitzender der SPD im Stuttgarter Gemeinderat, den seine Partei 1996 auf die Baubürgermeister-Stelle wählte, sich hauptsächlich als die schlimmsten Übel verhinderndes Korrektiv der großprojektvernarrten Oberbürgermeister Rommel und Schuster sah. Ansonsten, so bestätigte er im Interview der „Bauwelt“ , habe er eine Strategie „der kleinen Schritte“ verfolgt.

Die To-do-Liste ist lang

„Klare städtebauliche Vorstellungen haben wir jedoch alle vermisst“, sagt der Sozialwissenschaftler Tilman Harlander. Nicht anders sieht das der Stuttgarter Bauingenieur Werner Sobek: „Wenn man immer nur nach bestem Wissen den nächsten Schritt tut, dann führt die Summe aller Schritte noch nicht in die richtige Richtung.“ Als Ergebnis der „kleinen Schritte“ bescheinigt er Stuttgart ein „immer unterdurchschnittlicheres Erscheinungsbild“. Eine Amtsperiode reicht freilich nicht, um eine lebenswerte Stadt mit unverwechselbarer Identität zu schaffen. Dreißig bis vierzig Jahre, schätzt Sobek, dürfte dieser Entwicklungsprozess in Anspruch nehmen. „Aber man muss halt mal anfangen.“

Eine gewaltige Herausforderung bedeuten indes schon die unmittelbar anstehenden Aufgaben. Harlander: „Wie verschafft man dem Grundgedanken einer Stadt, die sich von der Parzelle her entwickelt, mehr Raum?“ Sprich: wie bringt man auch Bürger in Grundbesitz? Wie lässt sich die Städtebaukatastrophe hinter dem Bahnhof, das keineswegs nur aus Sicht der Masterplan-Verfasser Verena und Klaus Trojan viel „zu schnell und zu opportunistisch“ vermarktete Europaviertel, städtebaulich und architektonisch nachbessern? Die gleiche Frage stellt sich für die städtebaulichen Wunden, die Stuttgart 21 reißt.

Eine einmalige Gelegenheit

Auf der To-do-Liste stehen ferner die Planung des Rosensteinviertels unter Einbeziehung der Bürger, die Aufwertung des stark vernachlässigten öffentlichen Raums, der produktive Umgang mit der enormen Flächenknappheit im Stadtgebiet, die Verkehrswege, Neckarpark, Neckarufer . . . Und nicht zuletzt hat sich der Baubürgermeister dem Problem zu stellen, dass die städtischen Liegenschaften zum Referat des Finanzbürgermeisters gehören, eines entschiedenen Verfechters des Verdrängungswettbewerbs. Für das Verschwinden des einzigen Cafés am Marktplatz etwa hatte Michael Föll seinerzeit nur ein Schulterzucken übrig. Dass die Politik dem freien Spiel der kapitalistischen Kräfte nicht hilflos zusehen muss, haben andere Städte mit entsprechenden Satzungen und Fördermaßnahmen ebenfalls schon vorgeführt. Das bekommt man aber nur mit, wenn man nicht permanent im eigenen Saft schmort. Dennoch, eine reelle Chance, glaubt der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete und einstige Präsident der Bundesarchitektenkammer Peter Conradi, hat der Baubürgermeister in Stuttgart nur, wenn er auch über die Liegenschaften verfügen kann.

Die Grünen im Gemeinderat haben jetzt eine einmalige Gelegenheit: das zu tun, wofür sie einst angetreten sind und wofür man sie gewählt hat – hoffnungsvoll und wider alle Lektionen der politischen Realität –, nämlich es anders und besser zu machen als CDU und SPD. Zwar ist ihr Kandidat Peter Pätzold immerhin Architekt, anders als der Jurist Matthias Hahn. Auf Pätzolds Homepage kann man nachlesen, dass er an mehreren Zeltkonstruktionen des Büros Rasch und Bradatsch mitgearbeitet hat. Auch ein paar Allgemeinplätze zum Thema Stadtplanung hat er aufgeschrieben („Gute, zukunftsfähige Stadtplanung braucht eine verlässliche Planungskultur“), aber ob er wirklich die Statur für das Amt mitbringt, müsste er in der Konkurrenz mit herausragenden Mitbewerbern erst beweisen. Darum: noch ist es nicht zu spät, ein Bewerbungsverfahren auszuschreiben und den kompetentesten Baubürgermeister für Stuttgart – ob männlich oder weiblich – zu finden. Wenn es dann noch gelingt, einen Gestaltungsbeirat zu installieren, worüber gerade eine Diskussion in Gang gekommen ist, hätten sich die Grünen unsterbliche Verdienste um diese Stadt erworben.