Beim 4:0 gegen Portugal beweist vor allem der dreifache Torschütze Thomas Müller weltmeisterliche Qualitäten. Trotz seiner erst 24 Jahre ist der Münchner ein echter Führungsspieler.

Salvador - Dummerweise ist das Spiel längst vorbei, als Cristiano Ronaldo endlich die Gelegenheit bekommt, unaufhaltsam davonzuziehen. In den Katakomben des WM-Stadions von Salvador schreitet er vorbei an den Reportern, überholt seinen Gegenspieler Jérôme Boateng und schaut dann noch einmal kurz zurück. Dort lehnt Thomas Müller am Geländer, in einer Rolle, die Ronaldo eigentlich für sich selbst vorgesehen hatte: als bislang größter Star dieser WM in Brasilien.

 

Allerdings sieht Müller nicht aus wie einer, der gerade drei Tore geschossen hat. Keinerlei Überschwang liegt in seinen Worten, keine Euphorie und kein Triumphgeheul. 4:0 hat die deutsche Nationalmannschaft am Montag gegen Portugal gewonnen, es war ein perfekter Start, aber „kein perfektes Spiel“, wie Müller meint: „Wir brauchen nicht so zu tun, als hätten wir wie eine Übermannschaft agiert.“ Es gebe viel zu verbessern, schließlich sei niemand nach Brasilien gekommen, um nur einen furiosen Auftakt hinzulegen: „Wir sind hier um Weltmeister zu werden.“

Es ist gewiss nicht die schlechteste Strategie, den Ball flach zu halten. Gegen Ghana geht es am Samstag weiter, es folgt das letzte Gruppenspiel gegen die USA, und dann soll es in der K.o.-Runde erst richtig losgehen. Nicht immer wird in Brasilien alles so reibungslos laufen wie gegen Portugal. Erst der frühe Elfmeter, der viel Sicherheit gab, dann die Rote Karte für Pepe, die das Spiel bereits in der ersten Hälfte entschied und es der deutschen Elf in der zweiten erlaubte, in der Mittagshitze von Salvador die Kräfte zu schonen. Hätte im Vorfeld jemand den optimalen Spielverlauf skizziert – er hätte genau so ausgesehen.

Löws Sorgen sind wie weggeblasen

Die Zweifel am Bundestrainer sind wie weggeblasen

Doch lieferte das Spiel auch jenseits glücklicher Fügungen verlässliche Anhaltspunkte dafür, dass der DFB-Auswahl eine lange Reise durch Brasilien bevorstehen könnte. Wie weggeblasen sind vorerst viele Sorgen aus der Vorbereitung – aus den Fragezeichen hinter Sami Khedira oder Manuel Neuer zum Beispiel sind dicke Ausrufezeichen geworden. Und fürs Erste erübrigt haben sich auch die Zweifel am Bundestrainer Joachim Löw, der auf die tollkühne Idee gekommen war, nur einen gelernten Stürmer mit zur WM zu nehmen. Miroslav Klose saß gegen Portugal nur auf der Bank – und wird gestaunt haben, wie perfekt Löws Plan aufgegangen ist. Was vor allem an Müller lag, dem unkontrollierbaren Mann im Angriff.

Über Systemfragen und Typbezeichnungen wolle er nicht mehr sprechen, sagt der Münchner, „es gibt nur eine falsche Neun, und das ist Lionel Messi.“ Allerdings ist auch Müller selbst ein Spieler, der mit seiner ganz und gar unorthodoxen Fußballart einzigartig ist. Als „Bewegungsstürmer“ oder „Raumdeuter“ begreift er sich und taucht mit seinen langen dünnen Beinen immer genau dort auf, wo ihn gerade kein Gegenspieler vermutet. „Der Thomas schließt einen Angriff einfach dann ab, wenn es niemand erwartet“, sagt Joachim Löw: „Er ist wahnsinnig schwer berechenbar und hat nur einen Gedanken im Kopf: Wie kann ich ein Tor erzielen?“ Mit fünf Treffern wurde er bei der WM 2010 in Südafrika Torschützenkönig, nun sind schon wieder drei hinzugekommen.

Müllers unergründliche Laufwege

Besonders wertvoll machen Müller aber nicht allein die Tore und die unergründlichen Laufwege. Der bayerische Naturbursche verkörpert daneben genau jene Eigenschaften, die es ebenfalls benötigt, um Weltmeister zu werden. Er ist frei von jeglicher Angst und nimmt sein Herz in beide Hände, er verfügt über ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein und einen unerschütterlichen Optimismus. Selbst vor den wichtigsten Spielen zwinkert Müller bisweilen fröhlich in die Kameras.

Kein Zufall ist es, dass es Müller war, der vor zwei Jahren im Münchner Champions-League-Finale gegen den FC Chelsea das 1:0 schoss (das nach seiner Auswechslung zum Sieg nicht reichen sollte). Und vor ein paar Wochen, im Pokalfinale gegen Borussia Dortmund, ließ er sich auch von schweren Muskelkrämpfen nicht davon abhalten, in der Verlängerung mit purer Willenskraft den 2:0-Endstand zu besorgen. Anschließend hat er seinen Vertrag bis 2019 verlängert und ist in den Kreis der Topverdiener aufgerückt, nachdem der Bayern-Trainer Pep Guardiola zu Beginn der Saison noch wenig mit der Spielweise des Eigengewächses hatte anfangen können.

Ohne Müller wird es schweirig

Ohne Müller hingegen hat das deutsche Nationalteam seine schwersten Niederlagen bezogen. Im WM-Halbfinale der WM 2010 in Durban musste er gegen Spanien (0:1) gelbgesperrt zuschauen. Zwei Jahre später, in der Vorschlussrunde der EM 2012, saß er gegen Italien (0:2) aus unerfindlichen Gründen nur auf der Ersatzbank. Es war die bitterste Stunde seiner Karriere. Nicht ohne Wehmut dachte man am Montag noch einmal an diese Nacht von Warschau zurück, in welcher der Bundestrainer so danebengelegen war. Diesmal hat er wieder alles richtig gemacht.

Als „Man of the Match“ sitzt Müller nach dem Sieg gegen Portugal mit der Trophäe eines Bierproduzenten auf dem Podium. Ob er auch bei dieser WM vorhabe, Torschützenkönig zu werden, wird er gefragt. „Ich gehe nicht davon aus, dass ich im nächsten Spiel wieder drei Tore schieße“, sagt Müller. „Aber versuchen werde ich es.“