Bald ist Bundestagswahl. Die Direktkandidaten werben um Ihre Erststimme, die Parteien um Ihre Zweitstimme. An dieser Stelle wollen wir über Kurioses und Ernstes der politischen Schlacht um die Wählergunst schreiben – als Drittstimme sozusagen. Diesmal geht es um die Nachfolge des Grünen Hans-Christian Ströbele.

Berlin - Der Wahlkreis 83 ist etwas Besonderes, was keinesfalls nur daran liegt, dass der Verfasser dieser Zeilen mit seiner wunderbaren Familie dort wohnt und wählt. Als politisch noch einen Tick bedeutsamer muss gelten, dass „Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost“ republikweit bisher den einzigen grünen Direktkandidaten in den wenige Kilometer entfernten Bundestag entsandt hat. Nun aber hört Hans-Christian Ströbele auf, der hier vor vier Jahren 39,9 Prozent der Stimmen holte und vor acht sogar fast unglaubliche 46,7. Im Alter von 78 Jahren ist nun Schluss für die – man kann es nicht anders sagen – lebende Legende der Umweltpartei.

 

Wer sein Erbe antreten wird, ist völlig offen, weshalb in Wahlkreis 83 ein kleiner Erbfolgekrieg im Gange ist, gewissermaßen ein Kampf um den Kiez. Ein rot-rot-grüner Dreikampf zeichnet sich ab, weil SPD, Linke und Grüne hier seit Jahren drei Viertel der Wählerschaft unter sich aufteilen, die CDU ein Schattendasein führt und 2013 in manchen Stimmbezirken sogar die Fünf-Prozent-Ebene riss, wenn es sie auf Wahllokalebene denn gäbe. Timur Husein, Jahrgang 1980, ist der fast bedauernswerte Christdemokrat, der mit seiner Kandidatur die Fahne des Bürgerlichen hochhält – ein direkter Einzug in den Bundestag gilt als ausgeschlossen und mit Platz 9 dürfte die Berliner CDU-Landesliste ebenfalls nicht zum Fahrschein Richtung Bundestag werden.

Ein linker Dreikampf

Unter sich ausmachen werden es die drei Linken. Und das ist durchaus wörtlich zu nehmen, weil Cansel Kiziltepe (SPD), Pascal Meiser (Linkspartei) und Canan Bayram (Grüne) einander politisch viel näher stehen, als das bei ihren Parteichefs derzeit der Fall ist. Muss in dem von linker Subkultur geprägten Bezirk auch so sein – sonst gewinnt man dort keinen Blumenkorb.

Besonders Bayram, die sich gerne mit Ströbele zeigt, versucht in dessen Fußstapfen zu treten, wenn es darum geht, möglichst unbequem auch der eigenen Führung gegenüber aufzutreten. Die Anwältin, die schon „einigen Miethaien die Zähne gezogen“ haben will, ist gerade erst wieder ordentlich angeeckt bei der Parteispitze mit einem Wahlplakat. „Die Häuser denen, die drin wohnen“ ist darauf in bester Hausbesetzermanier zu lesen – der Bundespartei gefiel das nicht. Canan Bayram möchte sich für Flüchtlinge, Vielfalt und eine offene Gesellschaft einsetzen nach dem Motto: „Lieber ein links-grün-versiffter Genderstar als ein Rollback in Nationalismus und Spießertum.“ Diesem Grundton entsprechend hat sie schon im Juni auf dem Parteitag den Tübinger OB Boris Palmer angeraunzt („Halt einfach mal die Fresse“) und gerade eine Solidaritätsdemo für die kürzlich verbotene „linksunten“-Netzplattform aus Freiburg unterstützt – wieder zum Ärger mancher grüner Realos. So wie der Altlinke einst mit dem Spruch „Ströbele wählen, heißt Fischer quälen“ punktete, weil er sich gegen die Kompromisse des grünen Übervaters und Außenministers Joschka Fischer stellte – so könnte das Motto der 51-Jährigen lauten: „Bayram wählen, Özdemir quälen“.

Grüne Spitzenquälerin, sozialdemokratische Agendakritikerin, linker Favorit

Ob es reicht, wird man sehen – allerdings landeten SPD und Linke bei der vergangenen Wahl bei den Zweitstimmen vor den Grünen. Vor allem die Linkspartei hofft, das ihr Direktkandidat Pascal Meiser (Wahlmotto „Löhne rauf, Mieten runter“) erstmals einen Wahlkreis gewinnen könnte, der geografisch nicht ausschließlich auf ehemaligem DDR-Gebiet liegt – Friedrichshain und Prenzlauer Berg gehörten bekanntlich einst zu Ost-Berlin, Kreuzberg aber zum Westteil der Stadt. So schlecht stehen die Chancen nicht, da die Linke 2013 mit 25,1 Prozent den größten Zweitstimmenanteil holen konnte, knapp vor der SPD. Für die tritt erneut Kiziltepe an, die über die Landesliste bereits seit 2013 im Bundestag sitzt. Arbeiten tut sie dort schon viel länger, weil sie davor im Büro des SPD-Linken Ottmar Schreiner tätig war, dem wohl prominentesten innerparteilichen Gegner der Agendapolitik von Kanzler Gerhard Schröder. Das hat Kiziltepe geprägt.

Und es hat zu einem Kiezwahlkampf geführt, in dem die drei aussichtsreichsten Kandidaten mehr oder weniger dasselbe wollen. Es kann aber nur einen geben, der Ströbele beerbt. Zum Glück haben die Wahlkreis-83-Bewohner noch ein paar Tage Zeit, um zu überlegen, wer das sein soll.