Der Stuttgarter Gemeinderat gründet an diesem Donnerstag wieder eigene Stadtwerke. Ein Rückblick auf den Verkauf der Neckarwerke 1999.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Es war der größte Deal in der Geschichte der Stadt Stuttgart - trotzdem ist der Verkauf der Neckarwerke im Winter 1999 in atemberaubender Geschwindigkeit über die Bühne gebracht worden. Nur sieben Wochen dauerte es, bis das 2,35-Milliarden-Euro-Geschäft perfekt war - am Drei-Milliarden-Euro-Bauwerk Stuttgart21 wird seit 15 Jahren herumgetüftelt. Drei Tranchen umfasste der Deal mit der Energie Baden-Württemberg (EnBW). Erstens verkaufte die Stadt ihr EnBW-Aktienpaket. Zweitens stieß sie 17,5 Prozent der Neckarwerke Stuttgart (NWS) ab - zusammen erhielt die Stadt dafür 1,35 Milliarden Euro. Drittens übertrug man im Jahr 2002 auch den restlichen 25-prozentigen Anteil an den NWS für eine weitere Milliarde Euro an die EnBW.

 

Im Nachhinein stellen sich viele Fragen zum Verkauf. Jetzt, da der Gemeinderat in der Sitzung am 12. Mai neue Stadtwerke gründet und so den alten Zustand teilweise wiederherstellt, ist der richtige Zeitpunkt, sie nochmals zu stellen.

Warum hat die Stadt überhaupt ihre Anteile an den NWS verkauft?

Ende der 90er Jahre ging die Angst um: Nach der Liberalisierung des Energiemarktes sanken die Strompreise und die Erlöse der NWS; zudem konnte jetzt jeder Stuttgarter seine Energie auch in Flensburg oder Tübingen bestellen. Die Furcht, die NWS seien bald keinen Pfifferling mehr wert, wurde gestützt durch ein Gutachten der Unternehmensberatung AT Kearny, die bei den NWS einen jährlichen Umsatzrückgang im dreistelligen Millionenbereich prophezeite. "Ich sehe meinen Auftrag darin, den Wert des Unternehmens und damit das Vermögen der Bürger zu erhalten", argumentierte OB Wolfgang Schuster im November 1999.

Wer vertrat welche Position?

Schuster erhielt im Gemeinderat breite Unterstützung: CDU, die Freien Wähler, die FDP und selbst die Grünen waren der Ansicht, dass die NWS alleine nicht überlebensfähig seien. Der damalige wie jetzige Grünen-Sprecher Werner Wölfle bezeichnet sein Ja zum Verkauf heute aber als "einen historischen Fehler". Michael Föll, der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende und heutige Finanzbürgermeister, hält die Entscheidung dagegen für "mehr denn je richtig": Ansonsten wäre Stuttgart weiter Mitbesitzer von drei Atomkraftwerken. Falsch sei lediglich gewesen, das Wasser mit zu verkaufen, so Föll.

Jedoch heulten nicht alle mit den Wölfen. Zumindest ein Teil der SPD wollte ein so kostbares und historisch gewachsenes Unternehmen nicht weggeben; die Fraktion stimmte aber zuletzt zu, so dass es am 16. Dezember 1999 sogar zu einem einstimmigen Beschluss im Rat kam.

Warnende Stimmen hatte es viele gegeben. Die Geschäftsführung der NWS begehrte öffentlich gegen ihre Chefs im Rathaus auf. Der Neckar-Elektrizitätsverband (NEV), in dem alle Kommunen mit NWS-Aktien saßen, war verärgert über den Alleingang Stuttgarts. Und die Chefs anderer Stadtwerke, wie in Bietigheim-Bissingen, dürften sich über die Stuttgarter Hasenfüße amüsiert haben. Sie behielten die kommunale Struktur bei - und machen seither satte Gewinne. Die Prognose der Stuttgarter Berater war nämlich krottenfalsch: Die Strompreise stiegen bald wieder kräftig.

"Es gab eine gesellschaftliche Grundstimmung, von der auch ich mich habe mitreißen lassen", sagt Werner Wölfle rückblickend. Manfred Kanzleiter sieht es ähnlich - wer eine andere Meinung wagte, galt als Ewiggestriger. So lehrt dieses Beispiel, dass auch Politiker nur aus der Bedingtheit ihrer Zeit heraus Beschlüsse treffen können. Wer weiß, ob es mit der heute unumstrittenen Energiewende nicht auch so kommt, zumindest teilweise? Vielleicht wird die nächste Generation die jetzige dafür schelten, dass sie den letzten Naturraum der Region, die Alb, mit Windrädern voll gepflastert hat.

Warum ging damals alles so schnell?

Noch im Juni 1999 hatte OB Schuster sich für einen Erhalt der NWS ausgesprochen. Allenfalls wolle man einen Partner suchen, hieß es, wobei wahlweise EnBW und RWE zur Debatte standen. Plötzlich aber bezeichnete Schuster Ende Oktober 1999 den Verkauf der NWS als beste Option; sieben Wochen später fiel die Entscheidung über den Milliardencoup. Bei dieser "unglaublichen Hektik" könne sich keiner der 60 Stadträte das Wissen für eine "verantwortliche Entscheidung von großer Tragweite" aneignen, klagte die SPD - wie sich längst herausgestellt hat, zu Recht. Es half aber nichts.

Eine richtige Erklärung für die überhastete Debatte könne er nicht liefern, meint Wölfle im Nachhinein. Bürgermeister Klaus-Peter Murawski gab damals in einem Interview den wohl ausschlaggebenden Grund an: Die NWS würden fast täglich an Wert verlieren, behauptete er.

Was wurde mit dem Geld gemacht?

Nach Abzug der Kapitalertragsteuer hat die Stadt von der EnBW nach neuester Auskunft 2,261Milliarden Euro erhalten. Alle Fraktionen waren, von kleineren Begehrlichkeiten abgesehen, der Ansicht, dass dieses Kapitel nicht ausgegeben werden dürfe. Daran hat sich die Stadt weitgehend gehalten. Da mit den Gewinnen der NWS stets das Betriebsdefizit der SSB ausgeglichen wurde, hat die Stadt 550 Millionen Euro fest angelegt, um mit den Zinsen das Verkehrsunternehmen zu unterstützen. Mit diesem Kapital will Stuttgart jetzt die Stadtwerke gründen - diese müssen künftig das SSB-Minus übernehmen.

Für 266 Millionen Euro wurden Grundstücke auf dem Areal von Stuttgart21 und am ehemaligen Güterbahnhof in Cannstatt gekauft. Der mit Abstand größte Batzen (62 Prozent) ging an die LBBW. Mit 537 Millionen Euro wurde ein Kredit für eine stille Beteiligung abgelöst; mit 867 Millionen Euro erhöhte die Stadt später ihren Kapitalanteil, als die Bank 2010 in der Finanzkrise ins Trudeln gekommen war. Dies sei eine gute Anlage, meint Michael Föll, denn die LBBW sei zukunftsfähig, und ab diesem Jahr werde man wieder eine ordentliche Verzinsung erhalten. Hinter vorgehaltener Hand gibt es andere Ansichten: Die Anlage berge ein hohes Risiko, da niemand wisse, wie sich die Bank entwickele.

Sind bei der EnBW NWS-Stellen abgebaut worden?

Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Die Stadt hatte der EnBW zwar zur Bedingung gemacht, dass im Zuge der NWS-Übernahme keiner der 4400 NWS-Mitarbeiter betriebsbedingt gekündigt werden dürfe, und das löste das Unternehmen ein. Die EnBW hat jedoch seit 2002 allgemein viele Stellen abgebaut. "Die Personalentwicklung in den Folgejahren war durch zahlreiche externe und interne Vorgaben geprägt", heißt es jetzt kryptisch in einer Stellungnahme der EnBW. Vermutlich haben also doch viele ehemalige NWS-Mitarbeiter die EnBW verlassen.

Warum gibt es Ärger um das Wasser?

Fast zwei Jahre nach dem Verkauf der NWS, im Juli 2001, wurde plötzlich bekannt, dass die Stadt auch ihr wichtiges Stimmrecht in den Zweckverbänden der Landes- und der Bodenseewasserversorgung mit veräußert hatte. Alle Fraktionen außer der CDU räumten ein, dass ihnen dies nicht klar gewesen sei. Zudem hat die Stadt der EnBW die Wasserversorgung zu schlechteren Konditionen verkauft, als die EnBW sie jeder Kommune von sich aus anbietet. So hat die Verwaltung schwere handwerkliche Fehler gemacht. Ohne Entgegenkommen der EnBW kann Stuttgart die Versorgung gar nicht wieder übernehmen. Beides sind Lehrbeispiele für die beschränkten Möglichkeiten einfacher Stadträte, die Richtigkeit hochkomplizierter Verträge zu kontrollieren.

Zwölf Jahre nach dem Verkauf korrigiert der Gemeinderat nun am Donnerstag seine historische Entscheidung. Vermutlich einstimmig.

Chronik der Stadtwerke

12. Mai 2011 Der Stuttgarter Gemeinderat entscheidet, wieder eigene Stadtwerke für Strom und Gas zu gründen. Für die Wasserversorgung soll es einen Eigenbetrieb geben.

16. Dezember 1999 Einstimmig beschließt der Gemeinderat, die städtischen Aktien an der EnBW und die Anteile an den NWS an die EnBW zu verkaufen. Erlös nach Abzug der Steuern: 2,261 Milliarden Euro.

1. Januar 1997 Die Technischen Werke Stuttgart (TWS) gehen in den neu gegründeten Neckarwerken Stuttgart (NWS) auf.

1. Mai 1933 Die TWS entstehen, als die Gas-, Wasser- und Stromversorgung in Stuttgart zusammengefasst werden.