Nach Jefferson wagen sich nur wenige freiwillig. Cacau ist einer von ihnen. Der VfB-Kicker kämpft mit seinem Jugendprojekt gegen die Armut in dem verrufenen brasilianischen Stadtviertel.

Region: Verena Mayer (ena)

Mogi das Cruzes - Eine Fahrt nach Jefferson ist ein gutes Geschäft für Taxifahrer: Sie dauert an die 25 Minuten und bringt knapp 40 Reais, also 13 Euro. Nicht schlecht in einem Land, in dem 400 Euro als anständiges Monatsgehalt gelten. Trotzdem zögert der Taxifahrer. „Jefferson?“, fragt er, „wirklich?“ In diese abgeschiedene Gegend geht niemand freiwillig. Doch die Passagiere bestehen darauf, und der Mann am Steuer fährt los. Raus aus der Stadt, rein in den Regenwald. Immer weiter, bis eine Siedlung mit 200 Häuschen auftaucht. In den saftigen Wiesen sammelt sich so massenhaft Müll wie ausgetragene Wäsche auf den Leinen der verrammelten Vorgärtchen. Die Luft ist so dieseltrunken wie die Hunde hier räudig sind und auf die Straße kacken. Dass man angekommen sein muss, merkt man daran, dass der Taxifahrer kassiert, rasch wendet und noch rascher davonbraust. Dass man richtig ist, weiß man, als man Cacau sieht. Cacau vom VfB.

 

Er arbeitet hier. Der Stürmer aus Stuttgart will die Bewohner des verrufensten Viertels der brasilianischen Stadt Mogi das Cruzes aus dem sozialen Abseits locken. Er hilft ihnen so, wie er sich das früher oft für sich gewünscht hat. Als er selbst noch in einem der armen Viertel von Mogi das Cruzes mit seinen 390 000 Einwohnern lebte und von vielem zu wenig hatte.

Der Vater trinkt und verlässt die Familie, als Cacau 15 ist. Die Mutter putzt in Doppelschichten. Trotzdem reicht das Geld nicht immer, um Cacau und seine zwei Brüder satt zu kriegen oder ihnen Schuhe zu kaufen. Die Buben ziehen um die Häuser, zielen nachts mit Steinschleudern auf Straßenlaternen und tagsüber mit Bällen auf imaginäre Tore. Wenn der kleine Cacau im Fernsehen den großartigen Romario im Stadion zaubern sieht, wünscht er sich, er würde ihn an der Hand nehmen und aus der Armut führen.

Der große Cacau steht auf einem umzäunten Sportplatz. Vor ihm hüpfen Buben, die statt eines T-Shirts Narben auf dem Oberkörper tragen. Neben ihm zappeln Mädchen in zu engen Leggings und zu kurzen Jeans. „Achtung“, ruft ein Mann. Er hat einen weißen Kampfanzug an und eine Mähne wie ein Löwe. Die Meute muckst nicht. „Wir stehen fest und gerade“, ruft der Mann, der Taekwondo-Lehrer ist. Die Gruppe entfaltet sich. Einen sicheren Stand hatte in Jefferson bis jetzt nur, wer sich nicht beim Dealen erwischen lässt.

300 000 Euro für das Projekt

Der Löwen-Mann hält ein dick gepolstertes Kissen in die Höhe. „Kickt mit dem Fuß dagegen“, ruft er. Einer nach dem anderen nimmt Anlauf, stößt sich nach oben und tritt zu. So viel Spaß hat Zuschlagen in Jefferson noch nie gemacht. Die Buben grinsen. Die Mädchen strahlen. Cacau lächelt. Es läuft gut hier.

Der Fußballprofi hat 300 000 Euro gespendet und mit dem christlichen Hilfswerk World Vision das Projekt Sports for Life in Jefferson initiiert. Von dem Geld sollen unter anderem ein Rasensportplatz gebaut und ein Lehmspielfeld befestigt werden. Zwei Trainer bekommen ein Gehalt, damit sie mit den Kindern Fuß-, Basket- oder Volleyball spielen, sie zu Jugendleitern ausbilden, Turniere veranstalten und Kurse organisieren, die es in Jefferson so wenig gibt wie Vereine. Taekwondo zum Beispiel. „Sport ist ein Türöffner“, sagt der Mann, dem der Sport die Welt geöffnet hat.

Cacau ist 16, als er bei seinem Traumverein Palmeiras ausgemustert wird. Der Junge würde wenigstens gerne Sport studieren, aber er muss Geld verdienen. Cacau verdingt sich als Maurer und verkauft Chips und Cola an Autofahrer im Stau. Als er 18 ist, nimmt ihn ein väterlicher Freund aus Mogi das Cruzes mit nach Deutschland. Er jobbt als Bühnenhelfer bei einer Samba-Gruppe und tingelt heimwehkrank durch den bayerischen Amateurfußball – bis er im Dezember 2001 von den Nürnbergern als „Entdeckung das Jahres“ gefeiert wird.

Der Junge, der Cacau in Jefferson nicht von der Seite weicht, ist zu diesem Zeitpunkt gerade geboren. Cleverson, 14, lebt mit seinen drei Brüdern in einem der Häuschen, die die Stadtverwaltung absichtlich abseits errichtete. Auf dem Kopf trägt er eine blaue Baseballmütze, auf der Argentina steht, sein T-Shirt ist ein Trikot der brasilianischen Seleçao. Cleversons Augen leuchten so hell wie seine Kappe, als er sagt: „Cacau hat mein Leben verändert.“

Eine neues Leben für Cleverson

Das Leben vor Cacau bestand für den Jungen aus Rumhängen. Die Schule war ihm nicht so wichtig. Warum auch? Für Leute aus Jefferson gibt es doch eh kaum Arbeit. Aber seit im Sommer Life for Sports begonnen hat, besteht Cleversons Leben aus Fußballspielen, Graffitisprühen, Gedichteschreiben und – aus Schule. Denn an den Projektkursen darf nur teilnehmen, wer anständige Noten schreibt.

Dona Regina, die Rektorin der Padre- Bernardo-Murph-Schule in Jefferson, hat festgestellt, dass ihre Schüler im Unterricht nicht mehr einschlafen, weil sie sich nicht mehr bis spät nachts rumtreiben. Lernen ist ihnen wichtiger geworden. Bei Vorstellungsgesprächen ist es den Jugendlichen inzwischen weniger peinlich, ihre Herkunft preiszugeben. Und von den 17-jährigen Absolventen wagen es immer mehr, ein Studium zu beginnen. Cleverson weiß schon jetzt, dass er später Lehrer werden will. Dona Regina, die bis vor einem halben Jahr noch nie von dem Fußballspieler aus Stuttgart gehört hat, konstatiert heute: „Cacau ist ein tolles Vorbild.“ Gut möglich, dass Dona Regina nicht weiß, dass Cacau in den letzten Monaten mehr in der Reha war als auf dem Rasen. Aber das würde nichts daran ändern, dass er für die Padre-Bernardo-Murph-Schule die Entdeckung des Jahres 2013 ist.

Im Sommer 2003 findet der Fußballer seine Heimat beim VfB. Cacau ist 22 und auf dem Weg, weltberühmt zu werden. Der Brasilianer wird mit Stuttgart Deutscher Meister und spielt in der Champions League. Er nimmt die deutsche Staatsbürgerschaft an und stürmt in die Nationalelf. Bei der WM in Südafrika wird Cacau mit der DFB-Elf Dritter. Der Verband ernennt ihn zum Integrationsbotschafter. In Korb, wo Cacau mit seiner Familie lebt, setzen ihn Fans sogar auf den Stimmzettel der Bürgermeisterwahl. Der Mann, der einst Romario bewunderte, wird selbst bewundert. Der Junge, der einst froh um jeden Real war, den er als Maurer und Straßenverkäufer kassierte, verdient Millionen.

Von den Hüttenwänden in Jefferson bröckelt der Putz. Statt einer Regenrinne klammern sich Satellitenschüsseln an die Dächer. Klappläden verdecken den Blick durch scheibenlose Fenster. Rostende oder hölzerne Törchen versperren den Zugang. Cacau ist überall willkommen. Er bringt Geschenke: strahlend rote Trikots. 120 kurze und 120 lange Shirts, dazu 120-mal passende Hosen und 120 Paar Strümpfe natürlich. Für jeden Projektteilnehmer einen Satz. Als Beweis dafür, dass Life for Sports lebt und weiterläuft, auch wenn Cacau nicht da ist. „Du wirst doch weiter in die Schule gehen?“, sagt der Spender zu den Buben und Mädchen, denen er ihr Geschenk überreicht. „Ja“, antwortet einer nach dem anderen. „Versprochen?“ – „Ja!“ Nicht alle schaffen es, Cacau in die Augen zu schauen. Er weiß: zu wenig Selbstbewusstsein. Er weiß nicht: „Wie sollen sie in der Gesellschaft bestehen?“ Es gibt noch viel zu tun, bis sich Cacau und World Vision aus Jefferson zurückziehen können.

Der Fußball kann nicht alles verdecken

Brasilien hat sich im Eiltempo zur siebtgrößten Wirtschaftsnation emporgeschuftet. Aber noch immer gibt es Viertel wie Jefferson. Macht das nicht wütend?

„Doch“, sagt Cacau. „Brasilien hat viele Symptome gelindert, aber nicht alle Probleme gelöst. Das Geld ist noch immer zu ungleich verteilt.“

Die Proteste im Sommer waren also wichtig?

„Ja. Aber wenn sie friedlich verlaufen wären, wäre es besser gewesen.“

Wie wird die WM in diesem Sommer?

„Schwer zu sagen. Wenn das Turnier erst mal begonnen hat, sind sicher 95 Prozent der Brasilianer dafür. Aber momentan wünschen sich viele eine Niederlage, damit man sieht: der Fußball kann nicht alles verdecken.“

Und Cacau?

„Für einen Sportler verbietet es sich, so zu denken.“

Er massiert seine rechte Wade. Ein anstrengender Tag geht zu Ende. Spätestens im Sommer wird Cacau wiederkommen. Möglicherweise tritt er als Fernsehexperte bei der Weltmeisterschaft an. Ganz sicher aber wieder als Sozialarbeiter in Jefferson. Dann trägt hoffentlich schon der Gemüsegarten Früchte, der das Nachbarschaftsgefühl in der Siedlung stärken soll. Und die Bewohner haben vielleicht schon ihr erstes Kulturfestival gefeiert.

„Wenn wir zusammenarbeiten, werden wir viel erreichen“, erinnert Cacau die Jugendlichen. Und er verspricht ihnen: „Ich bin immer bei euch.“