Wer mit dem Finger auf andere zeigt, auf den zeigen, wie jetzt auf Christian Wulff, drei Finger zurück. Ein Essay über Politik und Moral.

Berlin - Ein Ministerpräsident bezieht in Deutschland ein ordentliches Gehalt. Es ist im Vergleich, na sagen wir, zum Chef der örtlichen Kreissparkasse nicht üppig. Aber es reicht, um auf seriöse Weise ein Eigenheim zu finanzieren. Christian Wulff hat sich als Ministerpräsident einen Privatkredit mit ungewöhnlich niedrigen Zinsen und auch ansonsten unseriös günstigen Konditionen von der wohlhabenden Ehefrau eines reichen Unternehmerfreundes geben lassen. Er hat auf Fragen zu diesem Thema zunächst eine formal korrekte, aber nicht die reine Wahrheit gesagt.

 

Ein Finanzbeamter käme in Schwierigkeiten, würde er sich von einem wohlhabenden Gönner, mit dem er im weitesten Sinne auch beruflich zu tun hat, einen solchen Vorteil gewähren lassen. Wulff hat gegen den Sinn des strengen niedersächsischen Ministergesetzes verstoßen, ob auch gegen den Buchstaben, ist strittig. Er ist kein Finanzbeamter, aber inzwischen Bundespräsident. Das ist ein Amt, das von vielen als moralische Instanz angesehen wird. Wulff wird künftig bei seinen Weihnachtsansprachen Probleme mit den mehr oder weniger wertehaltigen Zutaten haben.

Politiker sollen das Volk repräsentieren

Aber das ist nur die halbe Wahrheit in einer Welt voller Widersprüche. Alle reden von Wulff. Kaum einer urteilt über jene, die ihm das Geld gegeben oder auch, wie man inzwischen weiß, für ein Buch Wulffs zu Wahlkampfzeiten Anzeigen im Wert von 43.000 Euro bezahlt haben. Bezahlt wurde für einen Freund, angeblich ohne dessen Wissen. Auch ein Geschenk ist im rechtlichen Sinne ein Vertrag. Und zu jedem, auch zu einem ein bisschen anrüchigen Vertrag gehören immer zwei.

Unternehmer, die geben, werden - gerade wenn diese Gaben ein Gschmäckle haben - von vielen Menschen nach anderen Maßstäben gemessen als Politiker, die diese geldwerten Vorteile annehmen. Man erwartet von den Gebern nichts anderes, gerade auch von solchen Gebern, die ansonsten nicht dafür bekannt sind rein altruistisch zu handeln.

Keine andere Kaste in der Bundesrepublik wird inzwischen annähernd so streng beurteilt wie die politische. Wenige Berufe werden gleichzeitig so gering geschätzt. Politiker aber sollen das Volk repräsentieren. Und sie repräsentieren es, im guten, aber manchmal eben auch mit all den menschlichen Schwächen.

Oft geht es ja gut

Denn auch dies ist ja richtig: Christian Wulff und seine Freunde, all die Geerkens und Maschmeyers, halten dem Volk einen Spiegel vor. Nur wenige haben so reiche Freunde wie der Bundespräsident, nur wenige sind ein Knoten innerhalb eines so mächtigen Netzwerkes. Aber viele nutzen die Chance am äußersten Rande des noch Erlaubten, um einen Vorteil zu erhaschen und ein Schnäppchen zu machen. Und noch mehr werden schwach, wenn sie glauben, etwas, was man eigentlich nicht machen sollte, tun zu können, ohne dabei entdeckt zu werden.

Sie werden so blind wie Christian Wulff, der damals geglaubt hat, diesen Kredit nehmen zu können, ohne einen Kratzer im öffentlichen Ansehen befürchten zu müssen. Oft geht es ja auch gut. Das war wohl immer schon so. Neu aber ist die Entschiedenheit, von Politikern und eben nur von Politikern ein Ausmaß an Redlichkeit und Vorbildlichkeit einzufordern, das der Rest der Gesellschaft zu liefern nicht in der Lage, zumindest aber nicht bereit ist.

Einst hat man Politiker auf einen Sockel gestellt. Einst hat man selbst zu einem Franz Josef Strauß noch aufgeblickt und einen Flughafen nach ihm benannt, trotz all der Amigo-Affären, die erst später diesen Namen bekamen. Diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Nach Christian Wulff wird kein Flughafen mehr benannt werden. Nun gilt ein anderes Extrem.

Das ist die reale Politik

Christian Wulff ist, auch wenn er es noch nicht wahrhaben will, bereits zu einer tragischen Figur geworden. Er hat Fehler gemacht. Im großen politischen Spiel hat er sich dadurch zu einem Bauern degradiert, den die Bundeskanzlerin nicht opfern kann, weil sonst die Königin selbst gefährdet würde. Das ist die reale Politik. Das hat mit Moral nichts zu tun. Auch deshalb kann sich Wulff nur selbst schaden, wenn er weiterhin an seinem Amt zu kleben versucht.

Aber man sollte nicht in einen Wettstreit darüber eintreten, welches Medium sich nun auch noch den Skalp dieses Präsidenten an den Gürtel hängen darf. Jene Medien, die Politiker erst hochschreiben, um sie dann mit Genuss von weit oben plotzen lassen zu können, haben durchaus Anteil an der aktuellen Entwicklung.

Der Bundespräsident hat wenige Befugnisse

Die Zeit wird über Wulff hinweggehen. Sein Fall aber könnte für eine Bürgergesellschaft Anlass sein, die eigenen Ansprüche neu auszutarieren, nach durchaus strengen, aber auch menschlichen und fehler-toleranten Maßstäben für Politiker zu suchen, nach annähernd gleichen Maßstäben für alle anderen vergleichbar herausgehobenen Gruppen, selbst für die noch mächtigeren.

Dabei sollten die Anforderungen an die da oben nicht außer Verhältnis zu einer Alltagsmoral stehen, mit der auch schwächere Naturen, also die Mehrheit der Bürger, irgendwie, wenn auch nicht in jedem Augenblick, halbwegs zurechtkommen könnten. Beim Bundespräsidenten würde es schon helfen, aus Anlass der Kritik an der Person nicht das Amt zu überhöhen. Der Bundespräsident hat wenige, in Krisensituationen freilich entscheidende Befugnisse. Das Amt ist eine Notbremse für dramatische Fehlentwicklungen, die hoffentlich nie eintreten werden.

Der Bundespräsident ist aber nicht die oberste moralische Instanz. Die präsidialen Reden, die realistisch betrachtet in den vergangenen Jahren manchmal gut, oft aber nicht ganz so gut waren, sind keine Evangelien. Sie helfen wie weiße Salbe denen, die Hilfe suchen. Die oberste moralische Instanz ist der Souverän, das Volk. Er sollte es sein, wenn die Maßstäbe stimmen. Die Institution ist robust. Sie hat auch schon einen Heinrich Lübke ertragen, ohne Schaden zu nehmen.