Die Verständigung der EU mit der Türkei zur Bewältigung der Flüchtlingskrise ist wichtig: Aber sie kann und darf echte europäische Lösungen nicht ersetzen, kommentiert Christopher Ziedler.

Brüssel - Alternativlos. Nein, dieses Unwort hat diesmal nicht Angela Merkel in den Mund genommen, sondern ihr niederländischer Amtskollege Mark Rutte. Er tat es, um die vielen Stimmen auf Linie zu bringen, die sich vor diesem EU-Gipfel kritisch zu einem Deal mit der Türkei äußerten. Alternativen dazu gab es wohl – die Europäische Union hat sie in den vergangenen Monaten nur leichtfertig verspielt.

 

Viele Faktoren haben dazu geführt, dass die EU sich in eine Situation manövriert hat, in der ein ganz wichtiger Baustein zur Eindämmung der Flüchtlingskrise von außen und nicht von ihr selbst kommen soll. Die wirklich europäische und humanitäre Lösung hätte darin bestanden, an gemeinsam geschützten Außengrenzen zwischen wirklich schutzbedürftigen Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten zu unterscheiden. Die anschließende Verteilung berechtigter Asylbewerber auf alle Länder jedoch ist krachend gescheitert. Ein EU-Grenzschutzkorps existiert bislang nur auf dem Papier eines Gesetzentwurfs.

Dies allein den Ungarn oder Polen in die Schuhe zu schieben, die partout niemanden aufnehmen wollen, oder den Griechen, die bisher keine funktionierenden Strukturen aufgebaut haben, wäre zu einfach. Die Vorgeschichte europäischer Fehler ist lang. Finanz- und Eurokrise etwa haben viele Verlierer produziert; die Unfähigkeit, für mehr sozialen Ausgleich zu sorgen, hat den Nationalisten, die heute europäische Lösungen blockieren, leichtes Spiel beschert.

Manches davon geht auf Deutschlands Konto. Selbst in Berliner Regierungskreisen wird inzwischen anerkannt, dass es ein Fehler war, nach der Grenzöffnung für die Flüchtlinge in Ungarn Anfang September nicht sofort einen EU-Gipfel einzuberufen, um die humanitär gebotene Entscheidung in seiner Signalwirkung in alle Welt zu begrenzen und europäisch zu legitimieren. Übergangen und düpiert hat sich auch Athens Regierung durch den Umgang mit ihr in der Euro- wie in der Flüchtlingskrise gefühlt.

Die Österreicher, die sich wegen der Reduzierung der Flüchtlingszahlen in Mitteleuropa feiern lassen, übersehen ebenfalls einen wichtigen Punkt. Sie mögen zu Recht Berlins Scheinheiligkeit geißeln, Wien für etwas zu kritisieren, das auch die Lage in Deutschland entspannt. Andererseits hat die große Zahl gestrandeter Asylbewerber etwa in Idomeni dazu geführt, dass ein fragwürdiges Geschäft mit der Türkei im Grenzbereich völkerrechtlicher Legalität fast unumgänglich geworden ist, um die nun erst recht überforderten Griechen zu entlasten.

Der Notnagel Türkei soll nun das europäische Haus zusammenhalten. In der realpolitischen Logik der vergangenen Monate, in denen mal dieser, mal jener Lösungsweg verstellt wurde, ist die Zusammenarbeit mit Ankara folgerichtig – dass es so weit kommen konnte, bleibt dennoch ein Armutszeugnis für die selbst ernannte Werte- und Solidargemeinschaft Europa.

Die „europäisch-türkische Lösung“ stellt eine Ersatzhandlung dar, bestenfalls ein wichtiges Element einer Gesamtlösung. Schon jetzt weichen Flüchtlinge wieder vermehrt von der Balkanroute auf den Seeweg ab Libyen aus. Dort gibt es noch keine Einheitsregierung, mit der sich ähnliche Abmachungen treffen ließen. Europa muss selbst lernen, Grenzschutz und die Aufnahme von Flüchtlingen gemeinschaftlich zu organisieren. Zumindest verschafft die Notmaßnahme mit der Türkei eine Verschnaufpause; Zeit, um an einem Waffenstillstand in Syrien zu arbeiten, Flüchtlingslager in dessen Nachbarländern adäquat auszustatten – und an einer echten europäischen Lösung zu arbeiten.