Der Chef der Liberalen provoziert die Kanzlerin und hofft auf den Beifall der Bürger. Dabei wirkt Philipp Rösler fast so wie sein Vorgänger.

Berlin - So weit ist es also gekommen. Regierungssprecher Steffen Seibert, der Herold der Kanzlerin, muss sich fragen lassen, ob man über ein Ende dieser Koalition nachdenken müsse. Kaum ein Wimpernschlag vergeht, bis Seibert antwortet. Er hat mit dieser Frage gerechnet. Weil sie so nahe liegt. Genau wie die Antwort, die er sagen muss, um zu retten, was im Moment noch zu retten ist: "Nein."

 

Man lebe in "ernsten Zeiten", sagt Seibert, und man darf sich in diesem Moment ziemlich sicher sein, dass jeder Atemzug mit Angela Merkel abgestimmt ist. Von "großen Herausforderungen" redet er und fügt an, dass deshalb "die Kommunikation immer ein Teil der Lösung des Problems sein" müsse. Daran, so Seibert, "arbeitet die Bundeskanzlerin".

Keine Zeit für Spielchen also. Es ist klar, an wen dies adressiert ist: Philipp Rösler, Vizekanzler, Wirtschaftsminister, FDP-Chef. Er hat am Montag begonnen, über eine "geordnete Insolvenz"Griechenlands zu spekulieren. Seitdem ist Rösler aus Sicht der Kanzlerin nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

Röslers Vorbild: Guido Westerwelle

Denn Rösler hat damit Geister gerufen, die er kaum mehr loswird wie einst Goethes unglückseliger Zauberlehrling. Noch ergötzen sie sich in der FDP-Führung an dem Schauspiel, das Rösler heraufbeschwor: die harte Auseinandersetzung mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Sie finden es gut, dass Rösler provoziert, polarisiert und behauptet, damit ein Tabu gebrochen zu haben. Mag sein, dass die Leitartikler über Rösler jetzt herfallen, sagt ein Mitglied des FDP-Präsidiums, aber "die da draußen", die "ganz normalen Wähler", die würden das völlig anders sehen, bestimmt.

Die da draußen, glauben die da drinnen in der FDP-Zentrale ganz fest, die finden das gut. Der Vizekanzler: ein Rebell, der den Knebel angeblicher Denkverbote ausspuckt und endlich Klartext redet. Wirkungsvoller hätte das auch Guido Westerwelle, der alte Hexenmeister, den die FDP letztlich auch wegen solcher Eskapaden vom Hof gejagt hat, auch nicht hingekriegt.

Der hatte es Rösler vorgemacht, zum Beispiel damals, als er mit seinem Lamento über "spätrömische Dekadenz" die Koalition spaltete. Wie damals changieren die Deutungen zwischen dem beschwichtigenden "war nicht so gemeint" und dem polternden "man wird wohl noch sagen dürfen". Und wie damals hofft die FDP-Führung, dass diese kalkulierte Eskalation am Ende Wähler überzeugt, dass wenigstens Berlin bei den Wahlen am Sonntag für die FDP zu halten ist, wenn schon sonst nichts mehr hilft.

Er lässt die Sache laufen

In der Parteiführung wird recht offen über dieses taktische Kalkül geredet. Als habe man keinerlei Vorstellung davon, was denn die Kanzlerin verwerflich daran finde, mit hochriskanten Eurospekulationen in Charlottenburg und Pankow auf Stimmenfang zu gehen. Als sei Kritik nicht angebracht, wenn FDP-Leute Ressentiments gegen Griechenland schüren, wie dies Schleswig-Holsteins Landeschef Jürgen Koppelin getan hat. Griechenland, so Koppelin, sei "wie ein Alkoholiker, den man auffordert, das Trinken einzustellen, und ihm gleichzeitig eine Kiste Schnaps gibt". Rösler lässt ihn gewähren.

Dabei ist es doch die FDP, die versucht, bei den Wahlen in Berlin mit solchen Sprüchen einen weiteren kalten Entzug zu vermeiden. Umfragen sehen sie bei drei Prozent. Damit wären sie raus aus dem Abgeordnetenhaus. Es wäre die siebte Schlappe in Folge, schon die vierte, die Philipp Rösler als Parteichef verantworten müsste.

Es schwinden Einnahmen und Aufstiegschancen für verdiente Söhne und Töchter der Partei. Noch hat Rösler den Kredit, den ihm seine Partei bei seiner Wahl zum Vorsitzenden im Mai gewährt hat, nicht aufgebraucht. Aber die FDP will nicht nur von Griechenland für Kredite Gegenleistungen. Deshalb hat Rösler ja auch versprochen zu liefern. Jetzt handelt er in seiner Not so, wie er es gelernt hat. Er handelt wie Westerwelle, den er beerbt hat mit dem Anspruch, alles anders zu machen. Er lässt die Sache laufen und versucht, möglichst lange auf der Welle zu reiten, die er mit dem Montagsbeben ausgelöst hat.


Die Sache droht aber außer Kontrolle zu geraten, denn ausgerechnet jene fundamentalen Euroskeptiker, die mit einem Mitgliederentscheid einen dauerhaften Rettungsschirm für die Eurozone verhindern wollen, bekommen wegen Rösler Oberwasser. Folgen die Mitglieder der Gruppe um den Finanzexperten Frank Schäffler und dem Sozialliberalen Burkhard Hirsch, dann ist die Koalition im Dezember, wenn die Entscheidung über den ESM ansteht, am Ende - spätestens. Rösler will verhindern, was er da befördert. Aber er hat die Dinge nicht mehr in der Hand. Schon räumt die Parteiführung ein, dass ein Mitgliederentscheid nicht mehr zu vermeiden sei. Der Ausgang ist ungewiss.

Aber Rösler hält nicht inne. Zweimal hat die Kanzlerin ihren Vizekanzler am Dienstag zu verschiedenen Gelegenheiten persönlich zur Ordnung gerufen. Man müsse mit Blick auf Griechenland seine Worte "sehr vorsichtig wägen", um Unruhe auf den Finanzmärkten zu vermeiden, sagte sie. Zweimal fanden ihre Mahnungen kein Gehör. Im Gegenteil: Rösler sendete ans Kanzleramt die schnippische Botschaft, dass es "keine Denkverbote geben" dürfe.

Aus der zweiten Reihe der FDP schallt es fortan im Chor, die Kanzlerin habe gefälligst die Meinungsfreiheit zu respektieren. Generalsekretär Christian Lindner spricht von einem nicht hinzunehmenden "Schweigegelübde". Saarlands Wirtschaftsminister Christoph Hartmann giftet gegen ein "kategorisches Denkverbot" der Kanzlerin. Der Berliner Spitzenkandidat der FDP, Christoph Meyer, verbat sich gar einen "Kanzlerinnenmaulkorb" und erklärte die Wahlen am Sonntag zur Abstimmung über den Umgang der Bundesregierung mit der Schuldenkrise in der Eurozone.

Der Weg ist noch weit

Zensur! Das ist ein harter Vorwurf, der Wunden reißt. Merkel lässt ihren Sprecher deshalb daran erinnern, dass sie, die DDR-Erfahrene, beim Mauergedenken an der Bornholmer Straße mit Inbrunst das Lied "Die Gedanken sind frei" gesungen habe. Rösler sei da nicht dabei gewesen, sagt Seibert, aber er kenne "mit Sicherheit dieses Lied". Jetzt wird die Sache also auch noch persönlich. Und trotzdem lässt es Rösler laufen. Auch Westerwelle wusste nie, wann man beidrehen musste. Von wem hätte es sein Lehrling also lernen sollen?

Es fällt schwer, die FDP noch zu verstehen. Denn während Rösler die Kampfposen Westerwelles einnimmt, versuchen sich in der Partei viele Mitglieder in Debatten über ein neues Grundsatzprogramm von eben jenem Westerwelle zu entfernen. In München sind einige davon am Dienstagabend im Pschorr zusammengekommen. Sie haben Fragen formuliert, auf die ihre Partei eine Antwort finden müsse. Drei Stunden reden die rund 100 FDP-Mitglieder über Bildung, Bürgerrechte, eine neue Wirtschaftsordnung, ein neues liberales Selbstverständnis.

Keiner, der "mehr Netto vom Brutto" forderte. Man muss mit Blick auf die FDP nicht zwingend poetisch werden, aber der Vergleich mit Blumen, die im Frühjahr nach langem Winter durch die Schneedecke stoßen wollen, lag so fern nicht. Aber es sind vorerst nur Fragen, mit denen sich diese Liberalen an ihre Wurzeln zu erinnern suchen. Der Weg ist eben noch sehr weit, der zu neuen Antworten, einem neuen Programm und vielleicht auch zu einem neuen Politikstil zu gehen ist.

So lange kann Rösler nicht warten.


Verfahren Für "wichtige politische Fragen" sieht die Satzung der FDP die Möglichkeit eines Mitgliederentscheids vor. Damit eine Basisbefragung überhaupt zustande kommt, müssen fünf Landesverbände, ein Drittel der Kreisverbände oder fünf Prozent der Mitglieder dies einfordern - bei 65.000 Mitgliedern wären dies knapp 3300 Liberale.

Abwehr Der Bundesvorstand kann parallel zur beantragten Formulierung einen Alternativantrag zur Abstimmung stellen. Beteiligt sich mindestens ein Drittel der Mitglieder an einem Entscheid, entspricht das Ergebnis einem Parteitagsbeschluss. Andernfalls wird dieser nur als Mitgliederbefragung gewertet.