Im Kabinett der Großen Koalition vermissen viele Firmen eine Anlaufstelle. Sogar bei der Union fehlt es an Kompetenz. Beim alljährlichen Wirtschaftstag in Berlin wird viel Lobbyarbeit gemacht.

Berlin - Es herrscht kein Mangel an Prominenz. Als der Wirtschaftsflügel der Unionsfraktion am Dienstagabend im Garten des Kronprinzenpalais Unter den Linden zum Sommerfest lädt, ist das ein Pflichttermin für die Kanzlerin. Nicht nur Angela Merkel und Fraktionschef Volker Kauder machen ihre Aufwartung. Zu der Festivität erscheinen auch einflussreiche Unternehmer und Banker aus ganz Deutschland. Bis auf eine Kleinigkeit verläuft die noble Fete wie immer: Schon mit der Einladung erfahren die Gäste, das ZDF wolle während der Veranstaltung Szenen für einen Fernsehfilm drehen. Die Politparty dient als Kulisse. Titel des Films: „Die Lebenden und die Toten“.

 

Im Regierungsviertel Berlins bringt diese merkwürdige Art des Sponsorings hämische Kommentare hervor. Der Wirtschaftsflügel von CDU und CSU gilt seit geraumer Zeit als wenig einflussreich und durchsetzungsschwach. Selbst in der Union nehmen viele Parlamentarier ihn kaum noch ernst. Manche halten ihn für scheintot. Im ersten halben Jahr der großen Koalition lassen sich einige Belege finden: Erst das Rentenpaket, das auf Jahrzehnte hinaus zu neuen Belastungen führt, und nun der Mindestlohn, über den der Bundestag morgen abstimmt. Für den Wirtschaftsflügel sind das Zumutungen. Doch wen interessiert das?

Der Wirtschaft fehlen Drähte in die Regierung hinein

Der Mangel an Einfluss ist auch für die Wirtschaft und ihre aufgeblähten Verbandszentralen zum Problem geworden. Zu den Wirtschaftspolitikern der Union halten Firmenpatriarchen, Manager und Verbandspräsidenten zwar engen Kontakt. Bei der Umsetzung von Gesetzen sind diese Beziehungen auch hilfreich. Ähnlich wie die Gewerkschaften ist auch die Wirtschaft auf funktionierende Netzwerke in die Politik angewiesen. Aber im Vergleich zu den Arbeitnehmerorganisationen leiden Verbände wie BDI, BDA und DIHK unter einem handfesten Nachteil. Der Chef eines großen Familienunternehmens beschreibt das Dilemma so: „Die CDU hat niemand mehr für die Kernkompetenz Wirtschaft.“

Es gibt zwar auf der zweiten Ebene viele Abgeordnete, die diese Lücke auszufüllen versuchen, aber der Union fehlten bekannte und gewichtige Wirtschaftspolitiker. Seitdem die große Koalition regiert, ist dieses Manko noch offenkundiger. Die Unternehmen können sich anders als früher nicht mehr darauf verlassen, dass der Wirtschaftsminister auf ihrer Seite steht. Dax-Vorstände und Selbstständige befürchten, dass sie mit ihren Anliegen bei Sigmar Gabriel schwer durchdringen. Der SPD-Vizekanzler genießt in der Wirtschaft zwar den Ruf, ein solider und verlässlicher Partner zu sein, aber den Verbänden blieb nicht verborgen, dass mit Gabriels Amtsantritt die Gewerkschaftsvorsitzenden in seinem Ministerium ein- und ausgehen.

Die Bosse sprachen im Kanzleramt vor

Auch im Kanzleramt brachten die Bosse ihre Sorgen schon vor. Angela Merkel und ihr Amtschef Peter Altmaier nehmen sich viel Zeit für sie. Doch im alltäglichen Geschäft kann sich die Kanzlerin nicht um alles kümmern. Im Kabinett vermissen die Unternehmen eine verlässliche Anlaufstelle. Es gehört zwar zum Selbstverständnis von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), für die Wirtschaft ein offenes Ohr zu haben, aber für das Klein-Klein der Sozialgesetze oder des Vorschriftendschungels habe er nicht viel übrig, wird berichtet.

Immerhin gibt es einen neuen Hoffnungsträger: Der 36-jährige Carsten Linnemann ist seit einigen Monaten Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung. Dem redegewandten und umgänglichen Nachwuchspolitiker aus Nordrhein-Westfalen trauen Vorstände und Verbandsfürsten viel zu. Linnemann ist nicht nur häufiger Talkshow-Gast, sondern gilt auch als sachkundig und zielstrebig. Er ist nach Meinung von Unionsleuten momentan der einzige Vertreter des Wirtschaftsflügels, der in der Regierung ernst genommen wird. Doch ein erfahrener Lobbyist warnt davor, zu große Erwartungen zu hegen. „Linnemann steht am Anfang, sein Arm reicht noch nicht so weit.“

Beim Wirtschaftstag wird dem FDP-Chef Platz gemacht

Morgen ist Wirtschaftstag in Berlin. Das ist ein Hochamt für liberal und ordnungspolitisch orientierte Christdemokraten. Sie haben sonst wenig Gelegenheiten, ihre Wichtigkeit zu zelebrieren. Veranstalter ist der CDU-Wirtschaftsrat, der 30 000 Unternehmen repräsentiert – auch er eine Säule des Wirtschaftsflügels. In Ermangelung eigener Leitfiguren überlassen sie jetzt sogar der außerparlamentarischen Opposition das Podium. Als besonderer Gast ist FDP-Chef Christian Lindner geladen. Der Wirtschaftsrat versteht dies als Spitze gegen die Kanzlerin. In seinen Kreisen ist der Phantomschmerz groß wegen der Leerstelle, welche die Liberalen hinterlassen haben. Damit einher geht die Sehnsucht nach vermeintlich „guten, alten Zeiten“, in denen wirtschaftsliberale Positionen unionsintern größeres Gewicht beigemessen worden seien.

In larmoyanten Gesprächen über dieses Thema fällt unweigerlich der Name Helmut Kohl. Der CDU-Patriarch habe stärker als Merkel auf eine Balance der Parteiflügel geachtet. Von Kohl ist aber auch eine Anekdote überliefert, wie er die Epigonen Ludwig Erhards in die Schranken wies: Als Vorsitzender der CDU wolle er „nicht den Ludwig-Erhard-Preis, sondern Wahlen gewinnen“. So hält es auch Merkel. Unter ihrer Ägide sei die CDU freilich in weitaus stärkerem Maße zu einer schwarzen Spielart der Sozialdemokratie verkommen, beklagen führende Leute vom Wirtschaftsflügel. Aus ihrer Warte begann die Ära Merkel mit einer Enttäuschung. Die Frau aus dem Osten hatte der Union in Oppositionszeiten einen geradezu neoliberalen Kurs verordnet. Als Symbol dieser marktradikalen Offensive gilt der Parteitag in Leipzig 2003. Von Bierdeckelsteuer und Kopfprämien war damals die Rede. Solche Parolen hätten Merkel zwei Jahres später auf dem Weg ins Kanzleramt beinahe stolpern lassen. Die heiklen Themen aus dem Reformkatalog von 2003 wurden prompt aus dem Wortschatz der CDU gelöscht.

Die Ordnungspolitik ist von der Agenda gestrichen

Seit damals sei Merkels Reformeifer mausetot, beklagen Parteifreunde, die in Leipzig noch Friedrich Merz zugejubelt hatten. Der ehemalige Fraktionschef zählt auch zu den Stammgästen des Wirtschaftstags, obwohl er seit Ende 2004 alle Parteiämter ruhen lässt. Für die Unionisten aus dieser Ecke ist er so etwas wie der sagenhafte König Artus, der sie eines Tages aus dem Schattendasein in der Merkel-CDU erretten soll. Die Kanzlerin habe die Union von einer Partei der sozialen Marktwirtschaft in eine „Partei der sozialen Wirtschaft“ umgemodelt, lästern ökonomisch orientierte Christdemokraten. Die Ordnungspolitik sei von der Agenda gestrichen.

Bis zur Bundestagswahl gab es einen, der dies regelmäßig besonders schrill beklagte: der Hamburger Anwalt Josef Schlarmann, damals Bundesvorsitzender der CDU-Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung. Im persönlichen Umgang ist Schlarmann ein nobler Herr mit ausgesprochen feinen Manieren. Merkel attackierte er aber stets mit gröbstem Schrot. Er schaffte es mit solchen Attacken immer wieder in die Schlagzeilen und auf die Hochglanzseiten der Nachrichtenmagazine. Darauf blieb sein Erfolg jedoch begrenzt. Innerhalb der Partei manövrierte er sich ins Abseits. Ihm wurde auch angekreidet, dass die Mitglieder des CDU-Bundesvorstands montags in Blättern wie dem „Spiegel“ lesen mussten, was Schlarmann an Merkels Regierungspolitik auszusetzen hat, er just an diesen Montagen aber den Sitzungen des Spitzengremiums fernblieb – oder sie schweigend absaß. Zudem hatte er kein Mandat im Bundestag und damit nur indirekten Einfluss auf die Fraktion.

Auch Kurt Lauk, Chef des Wirtschaftsrats, leidet unter dieser Außenseiterrolle. Ebenso wie für Schlarmann ist für ihn ein Platz im Bundesvorstand reserviert. Aber Stimmrecht hat er nicht. Auch er gehört der Fraktion nicht an. Merkel muss sein Votum nicht fürchten, er kann ihr machtpolitisch nicht unmittelbar schaden. Wenn Lauk sich zu Wort meldet, spricht er Klartext. Die schwarz-rote Rentenpolitik hat er als „Geisterfahrt“ gebrandmarkt. Dennoch klingt das wie eine ferne Stimme aus dem Off. Fundamentalisten wie er werden im Kreise führender CDU-Politiker eher belächelt. Mit „Haudegenpolitik“ sei nichts zu erreichen, heißt es.