Die indische Planstadt des berühmten Bauhaus- Architekten und Stadtplaners Le Corbusier entstand vor mehr als 70 Jahren – ein Film zeigt, was wir heute von Chandigarh lernen können.

Architektur/Bauen/Wohnen: Andrea Jenewein (anj)

Die Einwohner nennen sie liebevoll „city beautiful“, die schöne Stadt: Die Stadt, die aus 14 verschiedenen modernen Haustypen besteht, die breite Straßen hat, aber gleichzeitig als Fußgängerstadt geplant wurde, in der Quartiere durch die Farbe der dort blühenden Bäume Bindung erleben. Und deren Stadtplan man als sehr geordnet, ja rasterhaft lesen kann – aber auch als das Abbild eines Menschen, bei dem der Capitol Complex, also der Regierungssitz, den Kopf bildet. Es geht um die Stadt, die für ihre Bewohner heute noch für Freiheit steht. Die Rede ist von Chandigarh, die Hauptstadt der beiden indischen Bundesstaaten Punjab und Haryana, an deren Grenze sie liegt.

 

Kurz nach der Teilung Indiens und der Befreiung aus der Kolonialherrschaft Englands im Jahr 1947 soll am Fuße des Himalayas aus dem Nichts eine neue Hauptstadt für den Punjab gebaut werden. Die alte Hauptstadt Lahore war Pakistan zugeteilt worden. Engagiert wurden Architekten aus dem Westen. Zuerst Albert Mayer, dann der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier, der sich unter anderem auch in der Stuttgarter Weissenhofsiedlung verewigt hat.

1952 wurde der Grundstein für Chandigarh gelegt. Über 70 Jahre später haben Karin Bucher und Thomas Karrer den Dokumentarfilm „Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh“ gedreht, der ein Blick zurück ist, die Gegenwart widerspiegelt – aber auch die Frage aufwirft, was wir heute von Chandigarh lernen können. Der Film wurde mit etlichen Preisen ausgezeichnet und begleitet Menschen auf ihren Wegen durch die Stadt und sucht Orte und Schauplätze auf, an denen sich das Zusammenspiel von altem Traum und neuem Leben zeigt, von Utopie und Alltag, von Zerfall und Poesie.

Die Planstadt Chandigarh stand von Anfang an für die neue Demokratie, den Fortschritt und den Glauben an die Zukunft. Le Corbusiers Vision war die einer modernen, humanen und gerechten Stadt, nach dem „Maß des Menschen“ erbaut, die ein kulturelles Leben und ein harmonisches Zusammenspiel von Mensch und Natur ermöglichte. Das zog natürlich viele Künstler und Kunstschaffende an.

Chandigarh ist nicht nur eine Stadt, sondern ein eine Lebenseinstellung

Architektur kann Zusammenleben ermöglichen oder verhindern, insofern war die Planstadt auch ein soziales Experiment. Aber sie kann noch mehr: „Chandigarh ist das größte Projekt seiner Art in Indien – weil es dich dazu bringt zu denken“, sagt etwa ein Bewohner im Film. „Ich bin Aktivist geworden, weil ich aus Chandigarh komme“, sagt ein anderer: „Die Architektur von Städten hat einen Einfluss auf die Psyche der Menschen.“ Soll heißen: Chandigarh ist nicht nur eine Stadt, sondern eine Lebenseinstellung.

Immer mehr Menschen zog es und zogen in die Planstadt. In Chandigarh, das ursprünglich für 500 000 Menschen geplant war, leben inzwischen über eine Millionen Menschen. Das Pro-Kopf-Einkommen ist das höchste im ganzen Land, die Mieten sind sehr hoch.

An den Rändern der Stadt entstehen Slums, weil ein Edikt regelt, dass es keine Nachverdichtung geben darf. Die Stadt verkommt zudem langsam zu einem Museum, weil die Menschen das Erbe erhalten wollen und sollen, statt mit der Zeit zu gehen. Doch der Monsun lässt den Beton alt aussehen. „Le Corbusier hat Chandigarh gut geplant“, sagt ein Bewohner im Film. „Aber vielleicht zu gut.“

Info

Der Film
„Kraft der Utopie - Leben mit Le Corbusier in Chandigarh“. Schweiz 2023.

Im Kino
Der Film läuft im Stuttgarter Atelier am Bollwerk, auf jeden Fall noch vom 1. bis 6. März, sowie im Zuge von „Architektur im Kino“ im Kommunalen Kino Esslingen, Karten gibt es noch für den 12. März, 20 Uhr.