Müssen sich Grundschüler mit den Nöten Zwangsprostituierter befassen? In Sillenbuch passiert genau dies, weil die Stadt an der Kemnater Straße ein Plakat der Freierkampagne aufgehängt hat – in nächster Nähe zu zwei Schulen.

Sillenbuch - Irmgard Brendgen überlegt, ob sie selbst zur Tat schreiten soll. Gerne würde die Leiterin des Geschwister-Scholl-Gymnasiums (GSG) das Plakat einfach entfernen, das in nächster Nähe zu ihrer Schule auf die Rechte von Prostituierten aufmerksam machen will.

 

Der Text auf dem Plakat ist auch an vielen anderen Stellen in der Stadt zu lesen. Er spielt mit Artikel 1 des Grundgesetzes. Dieser erklärt die Würde des Menschen für unantastbar. Der Satz auf dem Plakat stellt klar, dass diese grundsätzlichste Forderung der deutschen Verfassung auch beim Sex gilt. Um den Geschlechtsverkehr zu umschreiben, wird das F-Wort benutzt.

Vielfache Kritik in der Stadt

Der drastische Ausdruck gehört zum Stil der städtischen Kampagne. Sie will an die unzivilisierten Umgangsformen und das häufig von Erniedrigung geprägte Verhältnis zwischen Freiern und Prostituierten erinnern und zur Bekämpfung der Zwangsprostitution aufrufen. An der als obszön empfundenen Wortwahl im Sinne der Aufklärung hat es bereits vielfach in der Stadt Kritik gegeben.

In Sillenbuch empört sich die Schulleiterin des GSG. „Es ist unser Erziehungsauftrag, die Jugendlichen zu einem angemessenen Sprachgebrauch anzuleiten. Und dann hängt die Stadt direkt in unserer Nachbarschaft ein Plakat auf, das solche Wörter verwendet“, sagt Brendgen. Ihre Schüler seien in der Pubertät, fügt sie hinzu. Die Erziehungsarbeit der Lehrer in dieser ohnehin schwierigen Entwicklungsphase werde so von der Stadt konterkariert.

Warum benutzt die Stadt solche Wörter?

Daniela Noe-Klemm leitet die benachbarte Grundschule. Sie fragt sich, wie sie ihren Schülern die Zusammenhänge hinter der Kampagne erläutern soll. „Ich muss Sechsjährigen jetzt erklären, was Prostitution ist. Darin sehe ich nicht unseren Bildungsauftrag.“ Ohnehin könnten Kinder in dem Alter den Transfer nicht leisten, der sie begreifen ließe, warum die Stadt solche Wörter benutzt, sagt die Schulleiterin. „Die Schüler sehen nur, dass die Stadt so etwas auf Plakate druckt, und begreifen nicht mehr, warum sie so etwas in der Schule nicht sagen dürfen“, sagt sie.

Als schädlich bewerten auch die Sillenbucher Sozialdemokraten das Plakat in der Nähe zu zwei Schulen. In einer Mitteilung heißt es, dass sich die Partei dafür einsetzen will, dass das Plakat verschwindet. Die SPD-Gemeinderatfraktion hatte zuvor, die Verwendung des F-Worts in der Kampagne insgesamt abgelehnt.

Der SPD-Bezirksbeirat Ulrich Storz war selbst Lehrer. Er teilt die Sorgen der Schulleiterinnen. „Ich weiß, dass Jugendliche eine andere Sprache verwenden, wenn sie unter sich etwa im Eichenhain chillen. Aber ihnen muss klar sein, dass solche Wörter in der Schule oder anderswo in der Öffentlichkeit nichts zu suchen haben. Und dann bringt die Stadt sie auf ein Plakat“, sagt Ulrich Storz. Der SPD-Politiker macht aber auch aus seinen grundsätzlichen Bedenken gegenüber der Kampagne keinen Hehl. „Ich frage mich, warum diese Plakate bei uns in den Außenbezirken hängen müssen“, sagt er. Natürlich wisse er, dass wohl auch im Bezirk Sillenbuch Freier leben, sagt er. Er hält dennoch nichts von einer prophylaktischen Aufklärung. „Da wird doch jedem Mann unterstellt, dass er ein potenzieller Freier ist“, sagt Storz.

Die Bürgermeisterin distanziert sich

Laut Angaben eines Sprechers der Stadt würden Drittfirmen die Plakate aufhängen und selbst entscheiden, wo sie das tun. Das Plakat an der Kemnater Straße werde noch bis zum 16. Mai hängen, sagt Sven Matis, Sprecher der Stadt. Er teilt mit, dass die Stadt bei der Vorbereitung der Kampagne mit dem Jugendamt im Gespräch war, ob ein solcher Sprachgebrauch auf Plakaten das Kindeswohl gefährde. „Das wurde von den Experten verneint“, sagt er. Die Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer distanziert sich dagegen von dem Vorgehen der städtischen Abteilung Öffentlichkeitsarbeit. Diese sei verantwortlich für die technischen und logistischen Aspekte der Kampagne, sagt sie. Sie selbst findet es unglücklich, dass das Plakat an der Kemnater Straße aufgehängt worden ist. „Die Ziele der Kampagne sind auch zu erreichen, wenn die Plakate nicht an Schulen hängen“, meint sie. Die Leiterin der Grundschule Riedenberg, Daniela Noe-Klemm, sieht die Stadt in der Verantwortung, wenn sie Aufträge nach außen vergibt. „Ich frage mich, ob Stuttgart sich so in der Nähe von Schulen präsentieren will“, sagt sie. „Ist das denn die Stadt?“