Die Journalistin Carolin Emcke erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Gewalt begleitet ihren Lebensweg. Doch ihre Strategie der Konfliktbewältigung ist der Dialog.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Bekanntgabe des Friedenspreises mit dem Tag zusammenfällt, an dem Großbritannien den Austritt aus der EU bekannt gibt, einem Tag, der Europa in Angst und Unruhe versetzt. Denn wann, wenn nicht jetzt bedarf es eines klaren Blickes, einer Stimme, die über den gebetsmühlenartigen Austausch von Allerweltsgewissheiten hinausreicht. Mit Carolin Emcke hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels eine Preisträgerin gekürt, die in ihren Büchern, Essays und Kolumnen seit Jahren diesem hohen Anspruch gerecht wird und den Journalismus gegen die Boulevardisierung der Meinungsbildung und alles, was daraus folgt, verteidigt.

 

Als Kriegsreporterin kennt sich die 1967 in Mühlheim an der Ruhr geborene Tochter eines Deutschen und einer Argentinierin in den Kampfzonen unserer Zeit bestens aus. Sie lag im Bombenhagel der US-Luftwaffe im Irak, besuchte Bordelle in Bukarest, berichtete von den Kämpfen in Gaza und aus den Jeans-Fabriken in Nicaragua, in denen Arbeiterinnen für ein paar lumpige Cent schöne Hosen für den Westen nähen. Über das RAF-Attentat auf ihren Patenonkel hat sie ebenso geschrieben wie über die gesellschaftlichen Zwänge, die die Erfahrung ihrer Homosexualität prägen. Zu ihren klugen Lesarten unserer Wirklichkeit gehört der Blick in die Gegenwärtigkeit des Schreckens, aber auch der in die Tiefen der Kulturgeschichte.

Emcke setze sich schwierigen Lebensbedingungen aus und beschreibe auf sehr persönliche und ungeschützte Weise, wie Gewalt, Hass und Sprachlosigkeit Menschen verändern können, begründete der Börsenverein seine Entscheidung. Am 23. Oktober wird der mit 25 000 Euro dotierte Friedenspreis in der Frankfurter Paulskirche verliehen. Er vervollständigt eine Reihe wichtiger Auszeichnungen, die der Journalistin des Jahres 2010 für ihr publizistisches Wirken bereits zuerkannt wurden, neben dem Theodor-Wolff-Preis der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay und der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen.

Im Grenzbereich von Literatur und Journalismus

Es fällt auf, dass in den letzten Jahren die Friedenspreisträger häufig aus dem Grenzbereich zwischen Literatur und Journalismus stammen. Das gilt für den im letzten Jahr prämierten Navid Kermani ebenso wie für die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch. Man mag darin auch ein Votum sehen für die essentielle Rolle die einer fundierten journalistischen Weltbeschreibung in Zeiten zufällt, in denen sich Fronten verschieben, die Einschläge näher kommen und längst sicher geglaubte Wahrheitsbestände immer mehr zu erodieren beginnen.

„Das Erste, was im Krieg stirbt, ist die Gewissheit. Kein Tag, keine Stunde lässt sich berechnen, alle Erfahrung aus anderen Kriegen erweist sich als fragwürdig, was sicher geglaubt war, zerschellt und lässt sich nur noch unsicher und zweifelnd zusammensetzen.“ So beginnt Emcke eine Reportage aus dem irakischen Kirkuk, für die ihr 2010 der Deutsche Reporterpreis verliehen wurde. Schwankende Gewissheiten, Zwischenwelten sind das Element, in dem sie nach der Wahrheit sucht. Und sie findet sie gerade nicht im Eindeutigen, sondern im Mehrdeutigen.

Emcke, die Philosophie studiert hat, nähert sich der Wirklichkeit wie einem schwer lesbaren Text, den es zu verstehen gilt. Mancher mag sich am Gestus einer Exegetin des Zeitgeschehens stoßen, wie sie ihn als Kolumnistin der „Süddeutschen Zeitung“ pflegt. Anstößigkeit freilich ist eher ein Siegel als ein Makel guter journalistischer Arbeit. Und ihr Mittel ist nicht der Monolog, sondern der Dialog.

Die Wahrheit lässt sich nicht checken, nur Beschreiben

Mit Alexijewitsch verbindet Emcke die Kunst, individuelle Zeugnisse in eine vielstimmige Gesamtkomposition zu überführen. Mit Kermani wiederum teilt sie die Fähigkeit, die rauen Erfahrungen an den Schmerzzentren der Welt im Licht literarischer und philosophischer Quellen zu interpretieren. Nähert sich Emcke beispielsweise dem Ukrainekonflikt, ist ihr die Augenzeugenschaft vor Ort so wichtig wie die Lektüre osteuropäischer Autoren und Autorinnen. „Mich interessieren immer auch literarische Beschreibungen, fiktionale Texte aus einer Gegend, weil sie andere Räume kartografieren, emotionale und poetische“, sagte sie einmal im Gespräch mit unserer Zeitung.

Nichts ist erhellender, als ihrem fein ausgebildeten Sensorium bei der Arbeit zuzusehen. Etwa wenn sie in einer Reportage über Frank Plasbergs Sendung „Hart aber fair“ den perfiden Mechanismus seziert, mit dem hier Politik gegen eine selbstinszenierte Wirklichkeit ausgespielt wird, um das populistische Ressentiment zu bedienen, das ohnehin schon immer wusste, dass Politiker nichts als notorische Lügner sind.

Die Wahrheit lässt sich nicht checken, sondern nur beschreiben, unermüdlich und immer wieder neu. Und wenn Literatur und Philosophie als Hilfswissenschaften nicht ausreichen, muss eben der Fußball in die Bresche springen.

In Zeiten in den sich der Populismus immer tiefer in Europa frisst, vertraut Emcke auf das Prinzip des Gegenpressings: das sei es, was jene die Europa lieben, jetzt spielen müssten, schrieb sie unlängst in einer ihrer Kolumnen. Vielleicht kann dies der Partie noch einmal eine andere Wendung geben. Eine bessere Spielmacherin als Carolin Emcke lässt sich jedenfalls dafür kaum wünschen.