Die Entzifferung des Genoms wird technisch immer einfacher. Bald dürfte die Analyse der gesamten DNA für jeden Patienten möglich sein.

Stuttgart - Es wird nicht mehr lange dauern, bis praktisch jeder sein Erbgut entziffern lassen kann. Die Kosten für die Sequenzierung der DNA sind in den vergangenen Jahren dramatisch gesunken – schneller sogar als die Kosten für die Rechenleistung von Computern. Es wird vom Tausend-Dollar-Genom gesprochen, dem vollständigen Erfassen des genetischen Profils eines Menschen für vergleichsweise wenig Geld. Vor vier Jahren waren dafür noch zehn Millionen Dollar nötig.

 

Für dieses Jahr hat die britische Firma Oxford Nanopore ein handliches Gerät für 900 Dollar angekündigt, das sich wie ein USB-Stick an den Computer anschließen lässt und einmalig immerhin ein Drittel des menschlichen Erbguts sequenzieren kann. Die Firma arbeitet auch an einer etwas größeren Version und wirbt, dass man mit 20 Geräten dieses Typs schon innerhalb einer Viertelstunde die ganze DNA eines Menschen auslesen könne. Damit sollen sich die Kosten auf 1500 Dollar drücken lassen. Auf einer Fachtagung in den USA hat die Firma bereits Prototypen vorgestellt, die aber noch nicht so zuverlässig arbeiten, wie sie es schon in einigen Monaten sollen.

Wenn er vom Tausend-Dollar-Genom höre, würden sich ihm die Nackenhaare aufstellen, sagt der Ökonom Johann-Matthias Graf von der Schulenburg aus Hannover. Man dürfe nicht als Erstes auf den Preis schauen. „Entweder ist die Sequenzierung sinnvoll, dann muss man Kosten und Nutzen abwägen“, sagte er diese Woche auf einer Tagung an der Universität Heidelberg. „Oder sie ist nicht sinnvoll – und dann sind selbst tausend Dollar zu viel.“

Personalisierte Medizin

Der Bonner Genetiker Peter Propping gab einen Eindruck davon, was mit der Erbgutentzifferung möglich wird. Er schätzt, dass etwa ein Prozent aller Paare ein genetisches Risiko für ihr Kind in sich tragen. Es handelt sich dabei um sogenannte rezessive Krankheiten, die bei Mutter und Vater nicht in Erscheinung treten, dies aber statistisch gesehen in einem von vier ihrer Kinder tun werden. Mit einer vollständigen Sequenzierung könnte man die Risiken für Hunderte rezessiver Krankheiten gleichzeitig ermitteln. „Dann braucht man einen kompetenten und einfühlsamen Arzt“, fordert Propping, „der auch darauf hinweist, dass man nicht jedes Risiko ausschließen kann.“ Zu den rezessiven Krankheiten zählen unheilbare Leiden, die das Kind töten, aber etwa auch die Stoffwechselstörung Hämochromatose, die zwar Organschäden hervorrufen kann, aber gut zu behandeln ist, wenn sie früh erkannt wird.

Mit den sinkenden Preisen und der Aussicht auf neue Einsatzgebiete entwickelt sich ein großer Markt. Der Pharmakonzern Roche versucht derzeit, die US-amerikanische Firma Illumina zu übernehmen, einen der großen Hersteller von Sequenziergeräten, und bietet den Aktionären 5,7 Milliarden Dollar. Roche setzt auf die personalisierte Medizin, bei der für die Therapie maßgeschneiderte Medikamente ausgewählt werden, die zum DNA-Profil des Patienten passen. Auch in Heidelberg sollen in einigen Jahren alle Patienten des Nationalen Tumorzentrums doppelt genetisch untersucht werden: Die Ärzte wollen die Behandlung daran ausrichten, wie sich das Genom der Krebszellen vom Genom der übrigen Zellen im Körper des Patienten unterscheidet.

Mit den sinkenden Preisen für die Sequenzierung fallen aber auch die Aufwendungen für die Analyse der Daten und die Erläuterung der Ergebnisse durch den Arzt stärker ins Gewicht. Die Forscher, die in Heidelberg tagen und seit einem Jahr aus Mitteln der Exzellenzinitiative des Bundes gefördert werden, suchen nach Wegen, um in diesen Situationen Vertrauen zu schaffen. Eine Herausforderung, denn Arzt und Patient begegnen sich anders, wenn der Patient gesund ist und nur zu einer genetischen Beratung in die Praxis kommt.

Ethikrat hält Gesetzeslage für ungeeignet

Proppings Beispiel der Untersuchung auf Gene für rezessive Krankheiten macht weitere Schwierigkeiten deutlich. So ist vor einer solchen Untersuchung praktisch keine Beratung möglich, da es um Hunderte genetischer Risiken gleichzeitig geht. Und auch wenn das Erbgut entziffert ist und die Analyse der Anlagen für rezessive Krankheiten vorliegt, wird es nicht viel einfacher, denn dann sprechen der Arzt und das Paar mit Kinderwunsch womöglich über eine seltene Krankheit, mit der sie noch nie etwas zu tun hatten.

Der Berliner Genetiker Jens Reich, der auch im Deutschen Ethikrat sitzt, hält die derzeitige Gesetzeslage für ungeeignet, um solche Fälle zu regeln. Die Sequenzierung des gesamten Genoms sprenge den Rahmen des Gendiagnostikgesetzes, das vor zwei Jahren in Kraft getreten ist. Dieses Gesetz ist nach Ansicht von Reich auf Krankheiten zugeschnitten, die auf einzelne Gendefekte zurückgehen: etwa auf die unheilbare Hirnerkrankung Chorea Huntington oder das Gen BRCA1, welches das Risiko für Brustkrebs erhöhen kann. Wenn ein junger Mensch genauer über die Risiken in seinem Erbgut aufgeklärt werden will, sieht das Gesetz ein mehrstufiges Verfahren vor, das Schnellschüsse verhindern soll und eine fachkundige Beratung vorsieht.

Doch was, wenn eine Person ihr Erbgut auf der Festplatte gespeichert hat – der Datensatz ist etwa 1,4 Gigabyte groß – und nach einigen Jahren nachschauen will, ob sie auch die spezielle Gen-Variante in sich trägt, deren Bedeutung bei der Entstehung von Krebs gerade erst entdeckt worden ist? Das Gendiagnostikgesetz fordert, dass ein Arzt das Ergebnis einer Untersuchung mitteilt. Eine Bevormundung mündiger Bürger sei das, schimpft Reich. Doch in Heidelberg gibt es auch Widerspruch aus dem Publikum: Wie solle der Patient mündig entscheiden, wenn er nicht gründlich informiert worden ist?