Das Human Brain Project ist mit einer Milliarde Euro eines der teuersten Forschungsprojekte der EU. Nach einem Jahr formiert sich nun Protest: In einem offenen Brief fordern Wissenschaftler mehr Transparenz und eine andere inhaltliche Ausrichtung.

Stuttgart - Es ist eines der größten Forschungsprojekte der Europäischen Union: Im Human Brain Project (HBP) haben sich mehr als 100 Forschergruppen vorgenommen, am Computer ein Supergehirn zu simulieren und damit eine detailgetreue Anschauung des Denkorgans zu schaffen. Das ambitionierte Vorhaben gehört zu den sogenannten Flaggschiffprojekten der EU und soll mit rund einer Milliarde Euro gefördert werden. Schon zu Beginn der Förderung vor einem Jahr wurde das Projekt kritisiert, doch nun bekommt das Vorhaben heftigen Gegenwind – auch von Forschern, die daran beteiligt sind. Mehr als 600 Wissenschaftler kritisieren das Projekt in einem offenen Brief an die EU, und täglich werden es mehr.

 

Anlass für den Brief ist einerseits eine Ende Mai getroffene Entscheidung, eines der wichtigsten Gebiete der Hirnforschung, die sogenannte kognitive Neurowissenschaft, aus dem Projekt zu streichen. 18 Labors sind davon betroffen, was bedeutet, dass sie für ihre Forschungsarbeiten aus diesem Topf kein Geld mehr bekommen sollen. Doch dieser Zweig der Neurowissenschaften ist für das Verständnis des menschlichen Gehirns unerlässlich. Denn hier geht es darum herauszufinden, wie die grauen Zellen arbeiten, wie sich daraus das menschliche Verhalten ergibt, warum der Mensch ist, was er ist. Werden diese Forscher nun nicht mehr an dem Megaprojekt beteiligt, geht es im HBP nur noch um die Weiterentwicklung der Supercomputer – das Projekt wäre somit nur noch ein technisches Vorhaben – ohne neurobiologische Relevanz. Es ginge dann nicht mehr darum zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert, wie dies jedoch bei der Bewerbung um die Fördermittel klar herausgestellt wurde. Man wollte gar Krankheiten wie Alzheimer besser verstehen. Das wird jedoch mit rein technischen Computersimulationen schwierig bis unmöglich, wenn sie im Labor beispielsweise im Tierversuch nicht überprüft werden können.

Zu den Kritikern gehören auch viele am HBP beteiligte Wissenschaftler. So findet etwa Stanislas Dehaene, Direktor der Cognitive Neuroimaging Unit der Pariser Universität, im Fachmagazin „Nature“ deutliche Worte: Zwar seien die Computersimulationen des arbeitenden Gehirns nicht völlig nutzlos, aber sie könnten nicht dazu beitragen, die Funktion des Gehirns oder Hirnerkrankungen besser zu verstehen. Er macht das an einem Beispiel deutlich: „Man kann jede Feder eines Vogels simulieren, aber wie er damit fliegt, kann man noch lange nicht erklären.“ Bevor man Strukturen am Computer simuliere, sollte man einige Schritte zurückgehen und versuchen, das Verhalten mit elektronischen Ableitungen am Tier oder Menschen zu verstehen.

Die Unterzeichner des offenen Briefs drohen mit Boykott

Außerdem fordern die Unterzeichner des Briefes, das Management des Projektes zu überprüfen. Sie werfen unter anderem dem Leiter des Projekts, dem Neurowissenschaftler Henry Markram von der ETH Lausanne, Intransparenz vor. Sie sagen, das europäische Flaggschiff werde immer mehr zu einem IT-Projekt, dies sei so nicht geplant gewesen.

Markram schafft schon seit einigen Jahren die Voraussetzungen für die Simulation: Seit 2005 arbeitet er im Blue Brain Project daran, einen Ausschnitt aus der Hirnrinde der Ratte nachzubauen. Alle Nervenzellen sowie deren Verknüpfungen untereinander bildet er im Computer ab. Allerdings umfasst das Modell nur einen winzigen Ausschnitt des Gehirns von etwa 10 000 Zellen, eine sogenannte neokortikale Säule. Und man braucht Hunderte dieser Säulen, um auch nur ansatzweise verstehen zu können, wie die Zellen in der Großhirnrinde kommunizieren. Auch die komplette Analyse der Nervenzellen eines Fadenwurmes haben bisher kein Licht ins Dunkel des Verhaltens des Wurmes gebracht. Daher gab es schon zu Beginn des HBP vor etwa einem Jahr kritische Stimmen, die das Forschungsvorhaben für unrealistisch hielten.

Sollte das Konzept nicht überdacht und transparenter werden, drohen die Unterzeichner des Briefes mit dem Boykott des Projekts. Sie plädieren dafür, nicht an Partnerprojekten teilzunehmen. Einige der Laborleiter, die am HBP beteiligt waren, haben sich bereits distanziert und das mit ihrer Unterschrift in dem Brief an die Europäische Kommission deutlich gemacht. Doch nicht nur am HBP beteiligte Kognitionsforscher fordern den Boykott, auch unbeteiligte Wissenschaftler aus benachbarten Forschungsgebieten schließen sich dem Protest an, denn es geht um die gesamte neurowissenschaftliche Forschung in Europa.