Die Attentate von Boston haben die Debatte über Videoüberwachung neu angeheizt. Wie die Stuttgarter Polizei den Bedarf an installierten Kameras einschätzt und wo in der Landeshauptstadt gefilmt wird – die StZ hat nachgefragt.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart - Wer in Villingen an den tollen Tagen das wilde Treiben verfolgt, der tut das vor laufenden Kameras. Die Überwachung dort, die nur während der Faschingszeit erfolgt, ist eines der ersten Beispiele, die dem Landesdatenschutzbeauftragten Jörg Klingbeil in der Debatte über Videoüberwachung einfallen. Ausgelöst wurde die Diskussion durch die Fahndung nach den Attentätern vom Boston-Marathon, die mit Aufnahmen aus einer Überwachungskamera schnell identifiziert worden waren. Auch auf den Mannheimer Hauptbahnhof sind regelmäßig Kameras gerichtet, die das Geschehen verfolgen, da dort regelmäßig Straftaten begangen werden.

 

So weit muss der Datenschutzbeauftragte, dessen Büro an der Königstraße liegt, seinen Blick aber gar nicht schweifen lassen, um Beispiele zu finden. Denn am Stuttgarter Hauptbahnhof sind knapp ein Dutzend Kameras auf den Baustellenbereich des umstrittenen Tiefbahnhofs für das Projekt Stuttgart 21 gerichtet. „Die Kameras sind noch in Betrieb, aber es sitzt niemand an den Monitoren und beobachtet das Geschehen“, sagt der Polizeisprecher Olef Petersen. Die Kameras wurden angebracht, als die Polizei in der Zeit des Abbruchs des Südflügels und der Räumung des Schlossgartens mit Straftaten am Rande der Proteste rechnete.

Aus diesen Gründen hängen sie nach wie vor dort: Sollte es an der Baustelle zu Straftaten im Zusammenhang mit Protesten rund um den Bahnhof kommen, würde man die Bilder auswerten. Zuletzt griff die Polizei im Frühjahr 2012 auf die Kameras zu – allerdings zur Aufklärung eines Unfalls. Eine Frau war am Südausgang des Bahnhofs von herabfallenden Materialien beim Abbruch des Südflügels getroffen worden. „Da haben wir die Aufnahmen herangezogen“, so Petersen. Geschieht nichts, werden die Bilder nach 48 Stunden überschrieben, wie es das Gesetz vorsieht.

Mit Bahnhof-Kameras befasste sich das Verwaltungsgericht

Das wohl bekannteste Beispiel für Videoüberwachung im öffentlichen Raum in Stuttgart ist das Projekt am Rotebühlplatz in den Jahren 2002 und 2003 gewesen. Die Aufnahmen von dort wurden 18 Monate lang aufwendig live im Schichtbetrieb an Monitoren verfolgt. Gerechtfertigt war die Dauerüberwachung dadurch, dass der Platz und die Passage darunter als Kriminalitätsschwerpunkt galten. Da die Zahl der Straftaten zurückging, wurden die Kameras anderthalb Jahre später wieder abgebaut. Ein ähnliches Projekt in Böblingen am Bahnhof überdauerte drei Monate.

Inzwischen fast in Vergessenheit geraten sind die Pläne, das Überwachungsprojekt vom Rotebühlplatz auszuweiten. Es wurde überlegt, die Überwachung bis in die Königstraße hinein auszudehnen. Das Argument eines Kriminalitätsschwerpunktes trifft für die am Hauptbahnhof noch hängenden Kameras allerdings nicht zu, weswegen die Bilder von dort auch nur ausgewertet werden, wenn es tatsächlich zu Zwischenfällen kommt. In beiden Fällen, bei der Überwachung des Rotebühlplatzes und bei den Kameras am Hauptbahnhof, hatte die Polizei ihr Vorgehen mit dem Landesdatenschutzbeauftragten abgestimmt.

Mit den Kameras am Hauptbahnhof musste sich im vergangenen Jahr auch das Verwaltungsgericht befassen. Ein Kritiker sah darin einen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung der Passanten. Dem schlossen sich die Richter nicht an und entschieden, dass die Kameras aufzeichnen durften. Schwerpunkte, an denen Kameras gebraucht werden könnten, gibt es laut der Polizei zurzeit in Stuttgart keine. Bei der Vermeidung von Straftaten würden  sie ohnehin nur helfen, wenn man sie mit Liveauswertung betreibe, wie seinerzeit am Rotebühlplatz, so der Polizeisprecher Petersen – und das ist ein großer Aufwand.

Für Bahn, SSB, Polizei und Kaufhäuser ist ein Hinweis Pflicht

Viele weitere elektronische Augen sind in der Stadt auf die Bürger gerichtet. In den Stadtbahnen und an deren Haltestellen wird flächendeckend überwacht, sagt Susanne Schupp, die Sprecherin der SSB. Ganz so weit ist die S-Bahn noch nicht, 60 Züge und die meisten Bahnhöfe sind mit Kameras bestückt. Wenn demnächst die 87 neuen Züge eingesetzt werden, sind auch die S-Bahnen komplett mit Kameras ausgestattet. Auch hier gilt: nur wenn die Polizei wegen des Verdachts einer Straftat es anfordert, dürfen die Aufnahmen angeschaut werden. Sonst überschreiben die Geräte die Filme nach 36 Stunden wieder.

An den Bahnsteigen, in den Zügen und im Bahnhofsbereich darf zudem niemand ohne sein Wissen vor eine Kamera laufen, das gilt auch für Geschäfte. Bahn, SSB, Polizei und Kaufhäuser müssen auf die Kameras hinweisen.

In Zeiten von Smartphones ist der Mensch aber nicht nur vor dem Objektiv von Überwachungskameras der Firmen und Behörden, sondern auch vor den Digitalkameras seiner Zeitgenossen. Und ohne Bedenken landen dieser Aufnahmen häufig im Internet. Im Falle eines Angriffs auf einen Polizisten auf der Baustelle des Grundwassermanagements hat die Polizei eine Vielzahl privater Videoaufnahmen ausgewertet, die im in dieser Woche zu Ende gehenden Prozess um die Schlägerei auch im Gerichtssaal gezeigt wurden. Der Verteidiger eines der Angeklagten griff das in seinem Plädoyer auf: Die Vielzahl der Bilder würde das nur wenige Sekunden dauernde Gerangel wesentlich mächtiger darstellen, als es gewesen sei.