Dem Wiederaufbau ist alles untegeordnet worden: Bayern hat nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich viel mehr Vertriebene und Flüchtlinge integriert als heute.

München - Wir schaffen das.“ Zwar will Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren berühmten Satz so nicht wiederholen. Das hindert die bayerische CSU aber nicht daran, weiterhin gegen „die Berliner Flüchtlingspolitik“ zu wettern. Dabei hat ausgerechnet der Freistaat Bayern, was Flüchtlinge betrifft, aus eigenen Stücken schon ungleich größere Dinge geschafft. Mit gewaltigem Erfolg für alle Beteiligten. Nur spricht niemand darüber. Es passt nicht ins Kalkül der Populisten, daran zu erinnern, was vor 70 Jahren geschah.

 

Von den 1,1 Millionen Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland kamen, sind in Bayern 160 000 hängen geblieben. Gemessen an der Einwohnerzahl des Freistaats – 12,8 Millionen – sind das 1,25 Prozent. Kein Vergleich mit den Zahlen von 1945, als allein Bayern knapp zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aufzunehmen hatte. Die Einwohnerzahl im Freistaat stieg damals um beinahe 25 Prozent. Landgemeinden gar wuchsen schlagartig auf doppelte Größe an. Pöcking am Starnberger See zum Beispiel hatte 555 Einwohner und musste 489 Zugezogene verkraften. Heute hat Pöcking 4212 Einwohner und 141 Flüchtlinge. „Und das soll nicht zu schaffen sein?“, fragt Marita Krauss, Geschichtsprofessorin an der Uni Augsburg.

1945, könnte man einwenden, sei die Aufgabe leichter gewesen, da es sich bei den Flüchtlingen fast ausnahmslos um Deutsche gehandelt hatte – Menschen mit derselben Sprache, aus demselben Kulturkreis. Doch auf der anderen Seite war die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation nach dem Zusammenbruch Deutschlands sehr viel härter als heute. „Und die geistigen Horizonte waren andere“, sagt Krauss als Spezialistin in Vertreibungsgeschichte: „Wenn damals ein katholischer Flüchtling im evangelischen Franken gelandet ist, dann war das nicht viel einfacher, als wenn Sie heute einen Moslem in der Nähe haben.“

Die Vertriebenen wollten mit aller Kraft aus dem Elend raus

Die Ablehnung, dafür hat Krauss zahllose Beispiele gesammelt, war groß: Als „Sauflüchtlinge“, als „Habenichtse“ und „Nullpunktexistenzen“ wurden Vertriebene beschimpft; die Einheimischen wehrten sich als „angestammte Bevölkerung“ gegen die „Horden“, von denen sie sich „entrechtet“ und „überschwemmt“ fühlte; Flugblätter forderten zum „Hinauswurf der Preußen und Schlesier“ auf. Ein Bauer, dessen Tochter einen Vertriebenen heiraten wollte, hätte den jungen Mann „am liebsten derschlag’n“. Alle Verbrechen, die begangen wurden, schob man den Zugezogenen in die Schuhe, und in München regte der Oberbürgermeister voller Misstrauen an, in jede Flüchtlingswohnung mindestens einen Münchner zu setzen.

„Aber tüchtig waren’s scho“, zitiert Krauss eine bayerische Bäuerin, die sie bei ihren Forschungen interviewt hat. Diese Erkenntnis markiert den Wandel in der Betrachtungsweise von damals: „Je mehr man die Vertriebenen Person für Person kennenlernte – nicht nur als Menschenansammlungen in irgendwelchen Sammellagern –, umso stärker hat man auch ihre menschlichen Qualitäten erkannt und schätzen gelernt“, sagt Krauss. „Die Vertriebenen waren von einem unglaublich starken Wunsch erfüllt, aus ihrem Elend herauszukommen.“ Sie taten es durch „Erweis sozialer Nützlichkeit“: durch Arbeit, durch ein Sich-Abrackern beim Hausbau – „um den Bayern auf Augenhöhe gegenübertreten zu können“ – durch das Gründen zahlreicher Firmen, durch das Schaffen von Arbeitsplätzen. Und die Einheimischen sahen immer deutlicher die Vorteile der „Neuen“ für das gemeinsame Ziel: den Wiederaufbau.

Anfangs konnten die Bayern auch gar nicht anders, als die Flüchtlinge aufzunehmen. Gegen eine Verteilung übers Land und die Einquartierungen auch in Privathäusern, sagt Krauss, ließen die amerikanischen Besatzungstruppen weder Protest noch Populismus durchgehen. Als dann die CSU – damals genauso um den rechten Rand der „angestammten Bevölkerung“ besorgt wie heute um das Klientel der AfD – die Vertriebenen links liegen ließ, wandten diese sich einfach an die SPD. Und flugs änderte sich die Lage: Denn die Flüchtlinge von damals hatten im Unterschied zu den heutigen nicht nur die Möglichkeit, sich zu organisieren, sie wurden – bei ihrem gewaltigen Anteil an der neuen bayerischen Bevölkerung – auch als Wählerpotenzial erkannt.

Von den Traumata der Vertriebenen wollte niemand etwas wissen

Minderheitsquoten im öffentlichen Dienst sorgten dafür, dass Vertriebene als Lehrer eingestellt wurden – gegen das Murren der Bayern, die sich nicht nur fremdbestimmt fühlten, sondern die solche Posten auch freihalten wollten für die „richtigen“, einheimischen Amtsinhaber, die ja aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehren mussten. Minderheitsquoten sorgten auch dafür, dass Flüchtlinge in der obersten Verwaltung des Freistaats aufsteigen konnten und schnell bis zu einem Viertel der Stellen einnahmen. Darunter befanden sich auch jene, die für politische Entscheidungen und fürs Verteilen der Gelder entscheidend waren.

Die Zeit kam starken Charakteren entgegen, die anderen mussten sehen, wo sie blieben. Wenn man Marita Krauss fragt, was Gesellschaft und Freistaat gegen die seelischen Traumata der Vertriebenen und zur Betreuung der unzähligen Minderjährigen, die ihre gesamte Familie verloren hatten, dann antwortet sie kurz und bündig: „Nix hat man g’macht.“ Der psychischen Spätfolgen sei man sich zum Teil erst vierzig Jahre später bewusst geworden.

Zuerst, nach dem Krieg, zählte ausschließlich der wirtschaftliche Wiederaufbau; da ging es um das Aufholen einer industriellen Rückständigkeit, um die Modernisierung Bayerns auch in Kultur und Bildung. Für all diese Zukunftsbereiche, sagt Marita Krauss, hätten sich die Vertriebenen als „zentraler Faktor“ und als „Motor“ erwiesen – nicht zuletzt deshalb, weil sie „mitten in der Gesellschaft lebten und nicht als geduldete Minderheit am Rande.“

Der gesellschaftliche Coup der Integration bestand in der Tat darin, die Sudetendeutschen, die Egerländer, die Schlesier, die Mährer kurzerhand zu Bayerns „Viertem Stamm“ zu erklären – neben den klassischen drei der Altbayern, der Franken und der Schwaben (die Pfälzer waren 1945 weggefallen). Über das Modell des „Vierten Stammes“, so Krauss, „war es möglich, eine eigenständige kulturelle Tradition offiziell zu fördern und zu präsentieren, ohne sie künstlich zu ,bayerischer‘ Tradition erklären zu müssen. Einem eigenen Stamm standen eigene Traditionen zu.“ In diesem Sinne sei in Bayern „zumindest von Seiten des Staates ein Prozess der Integration, nicht aber der Angleichung verordnet“ worden, sagt die Historikerin: „Man hat eine Kultur nicht abgeschnitten, sondern mitgenommen in eine neue Zeit.“