Winfried Kretschmann glaubt, dass der Erfolg der Grünen anhält. Er will aber ein Ministerpräsident für alle sein, sagt er den StZ-Schülerreportern.

Stuttgart - Atomausstieg und Endlagersuche, Stuttgart 21 und Bürgerprotest. Schon in seinen ersten Amtswochen als Regierungschef hat Winfried Kretschmann alle Hände voll zu tun. Das hielt ihn aber nicht davon ab, sich den Fragen der StZ-Schülerreporter zu stellen.

 

Herr Ministerpräsident, weshalb sind Sie Ministerpräsident geworden und nicht Lehrer geblieben?

Puh, das ist eine Frage. (Nachdenkpause) Ich bin einfach ein politischer Mensch. Ich war ja Schülersprecher an meinem Gymnasium, und habe dort 1968 eine etwas aufrührerische Rede gehalten, die aus heutiger Sicht ziemlich harmlos war, den damaligen Rektor aber zu einer wütenden Antwort animierte.

Das war Ihre Abiturrede?

Ja, diese Rede hielt immer der Scheffelpreisträger, der beste Abiturient im Fach Deutsch. Das war ich. Da wurde eine literarische Rede erwartet. Ich hielt aber eine politische Rede. Das war vielleicht der Anfang. Da hat sich gezeigt, dass ich ein politischer Mensch bin.

Um was ging es denn in dieser Rede?

Um Demokratie an der Schule. Und dass Demokratie dort nur als Spielwiese vorgesehen war, nicht als echte Demokratie.

Vom Maoisten zum Staatschef – wie geht das?

Der Mensch soll sich, wie man in der erhabenen Literatur liest, weiterentwickeln. Das habe ich irgendwie hingekriegt. Aber die 68er-Zeit war schon sehr wichtig und hat aus einer erstarrten Honoratioren-Republik eine lebendige Demokratie gemacht. Ich betrachte das heute als wichtige Erfahrung. Die linksradikalen Ausflüge waren allerdings eine Verirrung. Davon habe ich mich dann gelöst. Seitdem bin ich gefeit vor irgendwelchen ideologischen Anwandlungen. Das war auch die Voraussetzung, dass ich Lehrer werden konnte. Ich musste mich einem Gesinnungstest unterwerfen und wurde überprüft, ob ich ein verfassungstreuer Mensch bin. Das bekam ich amtlich bestätigt.

Das war die Zeit des Radikalenerlasses?

Ich sollte mich dazu äußern, was ich in irgendwelchen linksradikalen Zeitschriften von mir gegeben hatte. Aus dem Verfahren kam ich heraus als staatlich anerkannter Verfassungsfreund.

Sie sind der erste grüne Regierungschef. Nachhaltigkeit ist das große Thema der Grünen. Was können Sie dafür im Land tun?

Sehr viel. Ich sehe das jetzt bei der Energiewende. Der Ausstieg aus der Atomenergie wurde zwar in Berlin beschlossen – zuerst von der rot-grünen Bundesregierung, dann nach Fukushima und einem energiepolitischen Salto erneut von Schwarz-Gelb. Unsere Aufgabe im Land ist, den Ausstiegsbeschluss umzusetzen. Das machen wir, indem wir unter anderem den Anteil der Windenergie von unter einem Prozent auf über zehn Prozent erhöhen. Da gibt es bislang Blockaden, die wir beseitigen können.

Wie stehen Sie zur Elektromobilität. Sollten Elektroautos subventioniert werden?

Der Weg in die Elektromobilität ist richtig, aber er ist auch lang. Wir wollen erreichen, dass in Deutschland im Jahr 2020 eine Million Elektroautos unterwegs sind. Doch das sind dann gerade einmal 2,5 Prozent des Fahrzeugparks. Der Verbrennungsmotor wird also noch lange Zeit eine große Rolle spielen. Deshalb ist es wichtig, dass auch der Verbrennungsmotor weiter technisch verbessert wird, also mit weniger Sprit auskommt. Der Chef eines Unternehmens hat mir neulich gesagt, 50 Prozent Einsparpotenzial seien da ohne Weiteres noch drin. Auch die Brennstoffzelle wird erprobt. Von direkten Subventionen für Elektroautos halte ich nichts. Das Geld sollten wir eher in die Forschung stecken. Richtig Sinn machen Elektroautos aber nur, wenn der Strom aus regenerativen Energiequellen kommt.

Deutschland will aus der Atomenergie aussteigen, dennoch stehen wir auch weiterhin vor dem Endlagerproblem. Würden Sie gestatten oder gar fördern, dass in Baden-Württemberg nach einem Endlager gesucht wird – vielleicht sogar eingerichtet wird?

Auf jeden Fall. Ich halte es für wichtig, dass nach wissenschaftlich objektiven Kriterien ein Endlager gesucht wird. So eine Suche macht natürlich nur Sinn, wenn man auch etwas finden darf. Deshalb sollten wir die Endlagerfrage nicht auf Gorleben beschränken, sondern auf alle geeigneten geologischen Formationen ausdehnen – also nicht nur Salzstöcke untersuchen, sondern auch Ton und Granit. Wo sich die am besten geeignete Stelle findet, sollte das Endlager gebaut werden. Allerdings bin ich der Ansicht, dass ein Endlager nur dann durchsetzbar ist, wenn kein Atomkraftwerk mehr läuft und wir unumkehrbar aus der Atomkraft ausgestiegen sind.

Denken Sie nicht, dass ein Endlager in Baden-Württemberg gerade bei Ihren Wähler auf harten Widerstand treffen würde?

Da ist mit starken Widerständen zu rechnen, nicht nur bei meinen Wählern. Aber irgendwo muss das Zeug ja hin. Wir sind Gegner der Atomkraft, doch der Müll ist schon da. Das ist sicherlich eine der schwierigsten Sachen, die man sich als Politiker vorstellen kann. Ich sehe dazu keine vernünftige Alternative.

Sind Sie als Ministerpräsident bereit, in bestimmten Fragen in Konflikt mit Ihrer Partei zu treten?

Ja, das bin ich. Zumindest in einem bestimmten Maß. Ich bin der Ministerpräsident des ganzen Landes und nicht nur der Grünen. Natürlich kann ich in Kernthemen nicht frontal auf Gegenkurs zu meiner Partei gehen. Ich könnte jetzt nicht morgen erzählen, ich wäre jetzt plötzlich für Atomkraft. So etwas geht nicht. Es gibt aber auch keinen Grund dafür, warum ich das machen sollte.

Obwohl Ihre Partei nicht stärkste Kraft im Parlament ist, sind Sie Regierungschef. Leiten Sie daraus ein Legitimationsproblem ab?

Nein. Wenn der Ministerpräsident von der Mehrheit des Landtags gewählt wird, ist er legitimiert. Dabei ist es nicht entscheidend, ob die Mehrheit von zwei Parteien kommt, die jeweils etwa ein Viertel der Wählerschaft umfassen und die stärkste Partei außen vor bleibt. Aber natürlich ist es politisch eine Herausforderung, wenn man gegen die stärkste Partei regiert.

Die Landesregierung tritt bei Stuttgart 21 für eine Volksabstimmung ein. Das Zustimmungsquorum liegt bei 33 Prozent. Halten Sie das für gerecht?

Nein.

Wie wollen Sie das ändern?

Erforderlich ist eine Verfassungsänderung. Wir benötigen dafür eine Zweidrittelmehrheit im Landtag. Also sind wir darauf angewiesen, dass die CDU mitmacht. Dazu ist sie im Augenblick nicht bereit. Es handelt sich letztlich um ein Verhinderungsquorum, was schon daraus ersichtlich ist, dass es auf Landesebene noch keine einzige Volksabstimmung gab. Aber natürlich halten wir uns an die Verfassung.

Glauben Sie, dass der grüne Funke auf das Land überspringt?

Ich glaube, er ist schon übergesprungen. Wir haben unser Stimmergebnis verdoppelt, und ich treffe auf eine große Sympathie. Viele Menschen sind froh, dass endlich mal jemand anders regiert als ewig und drei Tage die Schwarzen. Wichtig ist, dass wir gut regieren. Es gibt ein schönes Wort aus meiner maoistischen Vergangenheit: Aus einem Funken kann ein Steppenbrand entstehen. Das war ein Mao-Spruch.

Sollte der Ministerpräsident direkt vom Volk gewählt werden?

Was bei der Direktwahl zum Oberbürgermeister gut funktioniert, ist nicht ohne Weiteres auf die Wahl zum Ministerpräsidenten übertragbar. Denn eine Stärkung des Ministerpräsidenten hätte eine Schwächung des Parlaments zur Folge.

Würde die Direktwahl nicht dazu führen, dass der Ministerpräsident populistisch regierte, also mit dem Fähnlein im Wind?

Diese Gefahr besteht immer, dass bei Wahlen Personen oder Parteien, die mit einem populistischen Programm auftreten, Erfolg erzielen. Aber das Grundproblem ändert sich das nicht dadurch, ob man den Ministerpräsidenten direkt wählt oder eine Partei wählt. Die Frage, ob Populisten und Demagogen Einfluss gewinnen, entscheidet sich woanders – nämlich darin, ob es gelingt, aufgeklärt Politik zu machen. Aufgeklärt im ganz einfachen Sinn, dass die Leute wissen, worüber geredet wird, aber auch im Sinne der philosophischen Aufklärung, dass das letzte Wort in Debatten die Vernunft hat und nicht die Emotion. Das Vertrauen der Bürgerschaft in die Politik hat dramatisch abgenommen, deshalb ist es uns ein großes Anliegen, den Graben zwischen Zivilgesellschaft und demokratischen Institutionen zu schließen. Dafür benötigen wir neue Formate der bürgerschaftlichen Beteiligung. Eines davon war die Schlichtung zu Stuttgart 21.

Dieser Text entstand im Rahmen der Aktion "Zeitung in der Schule".


Ministerpräsident: Seit dem 12. Mai regiert Winfried Kretschmann (63) Baden-Württemberg. Er steht an der Spitze einer grün-roten Koalition und ist der erste Ministerpräsident, den die Grünen in der Geschichte der Bundesrepublik hervorgebracht haben. Kretschmann ist von Beruf Gymnasiallehrer. Er unterrichtete Biologie, Chemie und Ethik. Während seines Studiums in Stuttgart-Hohenheim Anfang der 1970er Jahre engagiert er sich vorübergehend im Kommunisten Bund Westdeutschland (KBW), einer der zahllosen linken Splittergruppen jener Zeit. Dem Landtag gehört er seit 1980 mit zwei Unterbrechungen an. 2002 übernahm Kretschmann den Vorsitz der Grünen-Fraktion, bei der Landtagswahl 2006 trat er erstmals als Spitzenkandidat seiner Partei an. Damals erreichten die Grünen 11,7 Prozent. Am 27. März 2011 fuhren die Grünen ein Rekordergebnis von 24,2 Prozent ein.

StZ im Gespräch: Dienstagbend ist Winfried Kretschmann im Rahmen der Veranstaltungsreihe der Stuttgarter Zeitung „StZ im Gespräch“ zu Gast in der Alten Reithalle in Stuttgart. Dort wird der neue Ministerpräsident über seine ersten Erfahrungen im Amt berichten und über seine politischen Ziele Auskunft geben. Auch die Leser werden Gelegenheit haben, ihre Frage zu stellen. Mehr als 600 Gäste haben sich angemeldet, die Veranstaltung ist komplett ausgebucht. Wer Kretschmann dennoch erleben möchte, kann dies auch im Internet-Livestream unter www.stuttgarter-zeitung.de/gespraech tun. Außerdem twittern wir unter www.twitter.com/StZ_Live aus der Alten Reithalle. Gekennzeichnet werden die Tweets, also die Kurzmeldungen, mit dem Hashtag #stzig. Videos sind am Mittwoch auf unserer Internetseite abrufbar.