Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hält die AfD-Programmbeschlüsse zum Islam für verfassungswidrig. Die geplante grün-schwarze Koalition sei ein gutes Gegenmittel gegen die AfD, die polarisiere und spalte.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken – das sieht Winfried Kretschmann (Grüne) als Hauptaufgabe der neuen Landesregierung. Im Interview mit unserer Zeitung erläutert er, warum er sich inzwischen auf das Regieren in einer grün-schwarzen Koalition freut und dieses Bündnis für eine Modernisierungschance für die CDU hält.

 
Herr Kretschmann, als Grün-Rot vor fünf Jahren an die Regierung kam, war das eine Zeitenwende, ein gesellschaftlicher und politischer Kulturbruch für Baden-Württemberg. Steht Grün-Schwarz, Ihre neue Koalition, für mehr als einen mühsam gefundenen Kompromiss?
Zweifellos. Nachhaltigkeit ist eine Leitlinie, die beide Parteien verbindet. In der Bildungspolitik haben wir uns auf einen vernünftigen Weg geeinigt – eine Rückentwicklung der Reformen findet nicht statt. Der Grundstein für einen Schulkonsens ist gelegt, wir führen den von mir gesetzten Schwerpunkt der Digitalisierungsoffensive verstärkt fort. Und: es ist eine Koalition zweier bürgerlicher Parteien, die sehr breit in die Gesellschaft hineinragen. Es kann deshalb eine Koalition des gesellschaftlichen Zusammenhalts werden.
Wo sehen Sie den besonders gefährdet?
Das Tempo der Globalisierung setzt alle Gesellschaften unter Stress, die digitale Revolution, Migrationsbewegungen, Klimawandel und Terrorismus fordern uns heraus. Das führt bei wachsenden Teilen der Bevölkerung zu Unsicherheit und Ängsten, die AfD schürt solche Ängste. Wie verhindern wir das weitere Vordringen dieser rechtspopulistischen Parteien in die Mitte der Gesellschaft? Wie halten wir unsere Gesellschaft zusammen. Dieser großen Herausforderung stellen wir uns.
Und Sie meinen, das ist mit Grün-Schwarz leichter zu schaffen?
Wir sind mit dem Bündnis gesellschaftlich breit aufgestellt. Die Grünen haben inzwischen eine tiefe Verankerung in den urbanen Milieus, die CDU ist immer noch kommunalpolitisch die große Kraft auf dem Land. Das kann man jetzt zusammen binden.
Die AfD nennt CDU, SPD, Grüne und FDP die „Konsensparteien“. Sie greift damit die Stimmung auf, dass es ganz egal sei, welche Partei regiert – am Ende komme doch das Gleiche raus. Verstärkt eine grün-schwarze Koalition nicht notgedrungen die Politikverdrossenheit?
Oberflächlich könnte man das so sehen. Aber der Teil der AfD-Wähler, der sich einfach zu wenig wahrgenommen fühlt, der sich mit seinen Problemen von der Politik zu wenig beachtet fühlt, den können wir integrieren. Hartgesottene Nationalkonservative werden wir mit Grün-Schwarz nicht zurückführen können.
Die AfD benutzt das Wort „Konsens“ allerdings als Schimpfwort…
Die AfD polarisiert und spaltet, deshalb ist sie ja gefährlich. Diesen Trend können wir in allen westlichen Gesellschaften beobachten. Überall frisst sich eine extreme Polarisierung wie ein Gift in die Gesellschaft hinein. Was hält eine moderne Gesellschaft zusammen und erlaubt gleichzeitig, frei und individuell zu leben? Diese Frage treibt mich um. Kompromisse sind etwas Elementares für die Demokratie. Kompromisse vereinen Verschiedenes. Das können Sie auch auf die Koalition übertragen. Wir teilen mit der CDU den Grundkonsens unserer Verfassung. Deswegen können wir koalieren und trotzdem darauf achten, dass die Verschiedenheit jedes Partners erhalten bleibt. Die AfD hingegen bewegt sich immer am Rand dieses Konsenses und geht nicht selten darüber hinaus.
Ist das AfD-Programm, das gerade beschlossen wurde, noch innerhalb des grundgesetzlichen Rahmens?
Nein. Was die AfD zum Beispiel über den Islam sagt, überschreitet die Grenzen des Grundgesetzes. Diese Weltreligion schuf Hochkulturen, denken wir nur an das maurische Spanien. Was wir jetzt mit dem Islamismus und dessen Terrorismus erleben, ist gerade mal 40 Jahre alt. Die AfD hat auch ein merkwürdiges Deutschlandbild. Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ gehört zum Bildungskanon der Deutschen. Die Botschaft dieses großen literarischen Werks lautet: religiöse Toleranz. Nicht der Staat hat zu bestimmen, was die richtige Religion ist, sondern der einzelne Mensch für sich. Diese Überzeugung ist nicht nur Teil der Verfassung, sondern auch Grundbestand unseres Fühlens. Wer das verkennt, so wie es die AfD tut, ist kein guter Deutscher, um den AfD-Spieß mal umzudrehen.
Im künftigen Landtag wird Ihnen der AfD-Bundesvorsitzende Jörg Meuthen als Oppositionsführer entgegentreten. Wie wollen Sie mit ihm umgehen?
Nur weil er die mitgliederstärkste Oppositionsfraktion führt, ist er noch lange nicht Oppositionsführer. Das wird man nicht dadurch, dass man die meisten hinter sich hat, die klatschen können, sondern indem man die Regierenden im Parlament politisch stellt. Das glaube ich jetzt nicht, dass die AfD das schafft.
Mit Grün-Rot gab es viele politische Aufbrüche: in der Energie- und Umweltpolitik, in der Schulpolitik, bei der Bürgerbeteiligung. Im schwarz-grünen Koalitionsvertrag ist Vergleichbares nicht zu entdecken. Ist Baden-Württemberg gesellschaftspolitisch gesättigt?
Man kann ja nicht immer neu aufbrechen. Wir Grüne bleiben ja in der Regierung, die neue Koalition wird die Dinge weiterentwickeln, mit neuen Akzenten. Es wird also keine Rückabwicklung von Grün-Rot geben.
SPD-Parteichef Nils Schmid hat geunkt, dieses Bündnis sei eine „Koalition der Spießer“. Hat der Vorwurf einen wahren Kern?
Das empfinde ich als einen merkwürdigen Vorwurf. Wenn ich die Sozialdemokraten als eines nicht erlebt habe, dann als die Rock`n` Roller der Landespolitik. Grüne und CDU sind zwei Partner, die aus einer fünfjährigen polarisierten Situation kommen. Sie haben sich in wenigen Wochen auf einen Vertrag geeinigt, der weit mehr ist als der kleinste gemeinsame Nenner. Das ist eine respektable Leistung, was daraus wird, wird sich zeigen.
CDU-Chef Thomas Strobl hat davon gesprochen, es seien „bockelharte“ Verhandlungen gewesen. Wie sehr unterscheiden sich die politischen Kulturen von Grünen und CDU noch?
Das spürt man durchaus. Man merkt das schon in der Sprache. Die Sprache gibt immer Aufschluss über die Denke dahinter. Ein Wort wie „Gender“ werden Sie im Koalitionsvertrag nicht finden, das geht einfach nicht mit der CDU. Sie legt Wert darauf, nicht von Atom-, sondern von Kernenergie zu reden. Bockelhart war der Streit ums liebe Geld und die Ministerien.
Kann es sein, dass die Unterschiede erst beim Regieren so richtig aufbrechen – zum Beispiel beim Bildungsplan, in dem es um Familie, Homoehe und Sexualität geht?
Das ist nun wirklich verkürzt. Im Bildungsplan geht es in einer der Leitlinien um Toleranz. Toleranz von sexueller Vielfalt gehört dazu. Wie auch immer, nein, das bricht nicht mehr auf, das ist auch in der CDU durch. Vielleicht nicht bei allen, aber doch bei sehr vielen. Ein grün-schwarzes Bündnis ist für die CDU in Baden-Württemberg eine große Modernisierungschance. Das wird für uns Grüne ein Problem, weil etwas an Differenz schwindet. Aber der Sinn einer Regierung ist in erster Linie ja, den Menschen und dem Land zu dienen, und nicht der eigenen Partei.
Ist es auch ein Dienst am Land, wenn Sie das Kultusministerium der CDU überlassen?
Wer welches Ministerium bekommt, ist immer hart umkämpft. Die Verteilung ist jetzt sehr ausgewogen. Beide Parteien haben gute Startbedingungen für die nächsten fünf Jahre. Wir haben die Ministerien auch strategisch fair verteilt. Innen und Schule sind der Kernbereich der Landeskompetenz. Insofern ist die CDU gut bedient. Aus diesen starken Ministerien kann der Koalitionspartner wirklich etwas machen. Sie sind der Gegenpol zum Ministerpräsidenten, der eine starke Stellung in der Öffentlichkeit hat. Soviel zum Thema „Kretschmann frisst alle auf“.
Gemeinsam mit der CDU lösen Sie das Integrationsministerium auf. Ist das nicht ein schlechtes Signal an alle Flüchtlinge?
Nein. Das Sozialministerium wird zuständig für die Integration. Das Haus wird damit zu einem Gesellschaftsministerium. Es geht um den Zusammenhalt der Gesellschaft in einem ganz breiten Sinn. Da wird das Ministerium eine zentrale Rolle spielen.
Wollten Sie das Finanzministerium haben, um zu zeigen, dass die Grünen mit Geld umgehen können?
Das können wir längst. Ich erinnere an den Großen Verkehrsvertrag, der von Minister Hermann ausgehandelt wurde: bessere Leistungen auf der Schiene für deutlich weniger Geld als im alten Vertrag. Wir zeigen vor allem: Die führende Regierungspartei übernimmt für dieses schwierige Feld Verantwortung. Das wird bei dieser Haushaltslage kein Vergnügungsministerium. Die Schuldenbremse naht, wir müssen den Haushalt wirklich saniert bekommen. Damit wird man sich keine Freunde schaffen, aber Respekt.
Wie werden sich die Grünen durch die neue Koalition verändern?
Wir werden neue Erfahrungen sammeln. Das ist eine spannende und interessante Herausforderung. Ich freue mich mittlerweile darauf, das jetzt mit den Schwarzen zu machen. Auch wenn es nicht mein Wunsch war. Mein Wunsch war, mit den Sozialdemokraten zu vertiefen, was wir in den vergangenen fünf Jahren angefangen hatten. Ich hatte mir erhofft, als Regierungschef nicht mehr so stark im operativen Geschäft gefordert zu sein und mehr Zeit zu haben, mich um die langen Linien zu kümmern. Jetzt wird es wahrscheinlich wieder unruhig, weil ich einen neuen Partner habe, der anders tickt. Das heißt, ich werde im Tagesgeschäft noch einmal ganz stark gefordert sein.
Das heißt auch, dass Sie die fünf Jahre durchziehen werden?
Wenn ich gesund bleibe, wird das so sein.