Während die Wähler debattieren, hat der Bundespräsident sich längst entschieden. Er bleibt - und versucht im Fernsehen zu retten, was zu retten ist.

Berlin - Oben auf dem Giebel von Schloss Bellevue steht, ganz links, eine steinerne Dame mit ernstem Blick. Wenn man nur so ganz kurz hinschaut, dann könnte man meinen, sie habe eine Sense in der Hand. Dem ist aber nicht so. Die Dame symbolisiert die Jagd - und sie stammt aus Zeiten, in denen auch hier im Regierungsviertel die Welt noch in Ordnung war: das Schloss ein Landsitz, sein Besitzer ein preußischer König, dem keiner was konnte. Jetzt residiert hier der Bundespräsident, und zwar nicht von Gottes Gnaden. Vorne vor dem Schloss flaniert den ganzen Tag über eine Bürgerschaft in Windjacken und Freizeitschuhen. Hauptstadttouristen aus der halben Republik, die nur ein Thema kennen: soll der Bewohner bleiben oder gehen?

 

"Es geht nicht, wie er sich verhält", sagt Jessica Jordan aus Stuttgart, die mit einer Freundin für ein paar Tage in Berlin ist. "Wie kann man im Arabischen Frühling für die Pressefreiheit plädieren und sich zu Hause nicht drum scheren", fragt Tobias Steinrode aus dem Sauerland. "Er muss gehen. Da spielt es auch keine Rolle, dass die Regierung ums Überleben kämpft."

Seine letzte Chance?

Während die Wähler noch debattieren, hat der Bundespräsident sich hinter den Schlossmauern längst entschieden. Er bleibt. Und da bisher keine der dürren schriftlichen und persönlichen Erklärungen Wulffs die Diskussion über sein Verhalten beenden konnten, setzt der Präsident nun auf das, was er wohl als seine letzte Chance betrachtet: eine Medienoffensive, die so aussieht, als stelle er sich ganz offen allen Fragen.

Ein Interview zur Primetime im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, geführt von Ulrich Deppendorf und Bettina Schausten, von festgelegter Dauer, nicht live ausgestrahlt, sondern erst einmal aufgezeichnet und mit zeitlicher Verzögerung veröffentlicht, zur Sicherheit.

Geht es Wulff wirklich um Aufklärung?

Da spannt einer, der nun zum Tanz auf dem Hochseil gezwungen ist, nicht nur ein Netz, er legt auch drunter, was er an weichen Matten nur so finden kann. Aber er tanzt. Im Fernsehstudio gehen die Scheinwerfer an, der Präsident ist gepudert und blickt in die Kameras. 

Die beiden Journalisten fragen scharf: nach dem Bankkredit, nach dem Anruf beim "Bild"-Chefredakteur, nach Selbstkritik und auch, ob der Präsident sich "unwürdig" verhalten habe. Aber sie haben sich auf ein Spiel mit Grenzen eingelassen - und die erst Grenze ist da die knappe Zeit. Nachfragen sind nicht immer möglich, Details, um die es ja gerade in diesem Fall geht, werden nicht erörtert. Es ist schon allein die Wahl dieses Formats, die Zweifel daran zulässt, ob es Christian Wulff wirklich um Aufklärung geht - wenigstens diesmal.

"Nichts Unrechtes getan."

Die Botschaft, die von diesem Auftritt ausgehen soll, ist eine andere. Außer einem "schweren Fehler", als den er die Pressionen auf den Journalisten sieht, für den er sich klar und deutlich entschuldigt und auf menschlicher Ebene um Verständnis wirbt, gesteht Wulff nichts ein. Er sieht sich als jemand, "der nichts Unrechtes getan hat, auch wenn nicht immer alles richtig war". Hier spricht einer mit sehr gebremster Reue, einer, der sich "als Opfer" empfunden, sich "hilflos" gefühlt hat, der seine Familie habe schützen müssen, der Sätze sagt wie diesen: "Es gibt auch Menschenrechte, selbst für den Bundespräsidenten." Das Staatsoberhaupt also ist auch nur ein Mensch: das soll hier rüberkommen. Einer der Freunde haben darf, der sich Geld leihen darf, der mit Freunden Urlaub machen darf - dass es darum nicht geht bei der Kritik, sondern um ganz übliche Maßstäbe, die an jeden Mitarbeiter in einem Ordnungsamt gerichtet werden, das blendet der Bundespräsident aus.

Und dann ist da noch der Subtext über die Medien, die "das Innerste nach außen" kehren - Wulff hat hier seine Mitschuldigen gefunden. Das für ihn selbst Wichtigste aber sagt der Präsident ganz am Anfang: Er habe zu keinem Zeitpunkt über einen Rücktritt nachgedacht.

Wulff will sich behaupten

Christian Wulff will sich ungeachtet aller Vorwürfe, aller Kritik, allen Unmuts auch in den eigenen Reihen in seinem Amt behaupten. Was ihn dazu veranlasst auszuharren, bleibt vorerst Spekulation. Wulff ist viel härter, eigensinniger und durchsetzungswilliger als sein softes Auftreten, sein eigenes Gerede von früher, er sei "kein politisches Alphatier", glauben lassen. Ohne ein gerüttelt Maß an Unerschütterlichkeit, ohne das Talent, Widrigkeiten schlichtweg auszublenden, wäre er niemals das geworden, was er bis heute ist.

Er hat sich hochgearbeitet aus den Niederungen der Kommunalpolitik in der Provinz der Stadt Osnabrück bis ins höchste Staatsamt, keine seiner Karrieresprünge klappte auf Anhieb. Dreimal musste er antreten, bis er zum Ministerpräsidenten von Niedersachsen gewählt wurde. Drei Wahlgänge musste er am 30. Juni 2010 durchstehen, neun bange Stunden des Wartens und Zweifelns, bis in der Bundesversammlung, die ihn zum Präsidenten wählen sollte, eine ausreichende Mehrheit erreicht war. "Der ist zäh, der hält auch bei größten Widerwärtigkeiten durch", sagen Christdemokraten, die ihn lange kennen. "Der will um alles in der Welt in seinem Schloss bleiben."

Wulff sei "der falsche Präsident."

Ein gewisser Trotz mag auch eine Rolle spielen. Als er nach Horst Köhlers Rücktritt von der Kanzlerin aufs Schild gehoben wurde, damit er diesen beerbe, da kürte der "Spiegel" den von Grünen und Sozialdemokraten unterstützten Konkurrenten Joachim Gauck vorab zum "besseren Präsidenten". Dieser Wortwahl folgten die meisten Medien. Auch die "Bild"-Zeitung, mit der Wulff ein inniges Verhältnis pflegte, charmierte Gauck. Ihm, nicht Wulff flogen die Herzen zu. Jetzt, als die Geschichte von Wulffs zwielichtigem Hauskredit ruchbar wurde, verfiel der "Spiegel" in das alte Muster. Wulff sei "der falsche Präsident", war jüngst auf dem Titelblatt zu lesen. Solche Anfeindungen spornen einen wie Wulff eher an, nicht nachzugeben. Einen Rücktritt hätte er als Triumph derer empfunden, die ihn nicht im höchsten Staatsamt haben wollten.

Merkel wollte nach den Erfahrungen mit Köhler, der mit dem politischen Betrieb stets fremdelte, partout einen Politiker im obersten Staatsamt. Jetzt hat sie einen, der Politiker geblieben ist - und deshalb in erster Linie taktisch denkt. Die Staatsräson scheint für Wulff im Moment keine Rolle zu spielen, schon eher die Rücksicht auf die eigenen Interessen und die seiner Partei. Dieser käme ein Rücktritt ungelegen - wegen der Schmach, noch einen Bundespräsidenten eigener Couleur scheitern zu sehen, und den Risiken, die eine Präsidentenwahl unter verschlechterten Mehrheitsverhältnissen bergen würde.

Präsident genügt Merkels Ansprüchen

Der Bundespräsident wird seine Entscheidung, den ranghöchsten Posten der Republik nicht freiwillig zu räumen, mit der Kanzlerin erörtert haben. Die beiden hätten während der vergangenen Tage "in ständigem Austausch" gestanden, heißt es. Was Merkel offiziell mitzuteilen hat, trägt früher an diesem Tag ihr stellvertretender Regierungssprecher Georg Streiter vor. Aber noch bevor er das Stichwort Bundespräsident in den Mund nimmt, machen Meldungen von Wulffs geplantem Fernsehinterview die Runde. Damit ist klar, dass der Präsident den Ansprüchen der Kanzlerin genügt. Sie habe "volles Vertrauen, dass der Bundespräsident alle anstehenden Fragen beantworten wird", sagt Streiter.

Es ist das dritte Mal, dass Merkel Wulff mit solchen Bekundungen in Schutz nimmt - ohne sich für dessen Verfehlungen in Haftung nehmen zu lassen. Ihr "volles Vertrauen" gilt ausdrücklich nur der Erwartung, dass der Präsident sich erklären werde. Weitere Erwartungen an diese Erklärung habe sie nicht, sagt der Regierungssprecher. Es sind Sätze, die die Kanzlerin gerade so nah bei Wulff halten, dass ihr kein Mangel an Loyalität vorzuwerfen wäre, aber auch ein Abgang nicht undenkbar ist. Denn zu diesem Zeitpunkt weiß niemand: wird dem Präsidenten seine Aktion zur Selbstrettung gelingen?

Die unendliche Präsidentengeschichte

Es ist in diesem Moment ein Gang ins Offene, zu dem sich Wulff und auch Merkel entschlossen haben. Und es werden die Reaktionen und Umfragen - und womöglich auch die neuen Details - in den nächsten Tagen sein, die darüber entscheiden, ob es Christian Wulff gelungen ist, der unendlichen Präsidentengeschichte nun ein letztes Kapitel hinzuzufügen. Oder doch nur ein vorletztes.

Wenn der Bundespräsident aber nach diesem Interview tut, was er will, nämlich im Amt bleiben - und dafür spricht alles -, dann wird er morgen viele kleine Sternsinger aus dem Ruhrgebiet in seinem Schloss empfangen. Eine Gruppe aus Gelsenkirchen will Wulff nicht nur den Segen spenden. Die Kinder haben ein kleines Theaterstück vorbereitet. Es geht darin um die Meinungsfreiheit. Das ist Zufall - die Sternsinger hatten sich schon zu Zeiten für dieses Thema entschieden, als in diesem Land klar war, dass der Bundespräsident dieses hohe Gut schützt. Andreas Strüder, Diözesanseelsorger der Katholischen Jugend in Essen, wünscht sich für seine Schützlinge vor allem eins: "Wir hoffen, dass sie am Freitag im Schloss Bellevue nicht auf ein leeres Haus treffen."