Es ist ein trauriger Rekord: Das Jugendamt hat 2016 so viele Kinder aus Familien genommen wie noch nie. Gegenüber 2013 hat sich die Zahl der Inobhutnahmen fast verdoppelt. Doch woran liegt der Anstieg?

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Das Stuttgarter Jugendamt hat im vergangenen Jahr 164 Kinder aus Familien in seine Obhut genommen. Das sind so viele wie noch nie – der Anstieg gegenüber 2015 (125 Inobhutnahmen) beträgt 31,2 Prozent. Gegenüber 2013 (84 Inobhutnahmen) ist es sogar fast eine Verdopplung. Wie ist deser Anstieg zu erklären?

 

Mehrere Faktoren kommen laut der zuständigen Abteilungsleiterin im Jugendamt, Barbara Kiefl, zusammen. Zum einen gab es 2016 deutlich mehr Meldungen von Kindesmissbrauch – insgesamt 1355, das sind 95 mehr als 2015. Auch seien mehrere Großfamilien mit fünf oder sechs Kindern betroffen gewesen, berichtet Kiefl. Das habe ebenfalls zu dem sprunghaften Anstieg beigetragen.

Ein weiterer Faktor: Es gibt insgesamt mehr Kinder in der Stadt. Wie berichtet hat sich die Zahl der Kinder wegen der hohen Geburtenzahlen und der Zuwanderung stark erhöht. 79 185 Null- bis einschließlich 14-Jährige lebten 2016 in Stuttgart, 2013 waren es fast 5000 weniger. Auch Flüchtlingskinder machten einen Teil der in Obhut Genommenen aus, so Kiefl. Wie groß ihr Anteil ist oder ob sie gar überproportional vertreten sind, könne sie nicht sagen. In der Statistik würden Flüchtlingsfamilien nicht extra ausgewiesen, erklärt sie.

271 Familien aus Flüchtlingsunterkünften werden vom Jugendamt betreut

Fakt ist, dass immer mehr Flüchtlingsfamilien aus den Unterkünften vom Jugendamt in Erziehungsfragen unterstützt werden. Der Bedarf sei merklich gestiegen, sagt Kiefl. 271 Flüchtlingsfamilien, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, würden vom Jugendamt betreut. Die Sozialarbeiter aus den Flüchtlingsunterkünften seien nicht mehr im Krisenmodus wie zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Die Kinder gehen in Kindergarten und Schule – Probleme fielen inzwischen mehr auf. Geflüchtete Familien hätten genauso Anspruch auf Hilfen zur Erziehung und auf Beratung wie andere Familien auch, so Kiefl. Bei Gefährdung des Kindeswohls schreite man ein.

Es ist ein bundesweites Phänomen, dass die Jugendämter mehr Verfahren zur Prüfung des Kindeswohls einleiten und häufiger tätig werden. Laut dem Statistischen Bundesamt kam es 2015 bundesweit zu rund 129 000 dieser Prüfverfahren, was einem Anstieg um 4,2 Prozent gegenüber 2014 entspricht. Es war der höchste Wert seit der Einführung der Statistik 2012. Für 2016 liegen die Werte noch nicht vor.

Inobhutnahmen, also Kinder aus der Familie zu nehmen, sind die weitreichendste Maßnahme. Sie sind immer vom Richter angeordnet. Ältere Kinder kämen vorwiegend in Wohngruppen unter, jüngere Kinder versuche man „familienähnlich“ unterzubringen, berichtet Kiefl. Zunächst kommen sie kurzfristig in eine Bereitschaftspflegefamilie, die für Kurzeinsätze geschult ist. Wenn die Rückkehr zu den Eltern nicht möglich ist, kommt das Kind anschließend – wenn möglich – in eine Langzeitpflegefamilie. Im vergangenen Jahr ist das System aufgrund der hohen Zahlen an seine Grenzen gestoßen: „Sowohl die Notaufnahmen als auch die Bereitschaftspflegefamilien waren immer voll“, sagt die Abteilungsleiterin. Man sei „arg auf der Suche“ nach Pflegefamilien.

Traumatisierte Mutter muss in Therapie

Nicht immer wehren sich die Eltern. Barbara Kiefl schildert zwei Fälle, in denen die Kinder im vergangenen Jahr aus den Familien genommen wurden, ohne dass ein Richter eingeschaltet wurde: Im Fall einer psychisch kranken, alleinerziehenden Mutter eines Babys hatte eine Mitarbeiterin aus der Flüchtlingsunterkunft das Jugendamt eingeschaltet. Die Mutter sei traumatisiert und wisse nicht, wie sie mit ihren Aggressionen umgehen soll. Das sechs Monate alte Kind wies Misshandlungsspuren auf. Das Kind sei in eine Bereitschaftspflege gekommen, die Mutter sei einverstanden gewesen und habe das Baby selbst übergeben. Man habe einen Therapeuten gefunden und hoffe, das Kind zurückbringen zu können. „Aber die Mutter ist noch nicht so weit“, sagt Kiefl. Auch der Fall eines 13-jährigen irakischen Jungen, der nun in einer Wohngruppe lebt, gilt offiziell nicht als Inobhutnahme: Der Junge war von seinem Vater als vermisst gemeldet worden, weil er nicht nach Hause gekommen war. Er war aber am nächsten Tag in der Schule. Wie sich herausstellte, hatte er in der Kälte draußen geschlafen, weil der Vater ihn geschlagen hatte. „Wir haben mit den Eltern gesprochen, ob sie einverstanden sind, dass sich ein Jugendschutzteam um den 13-Jährigen kümmert“, berichtet Kiefl. Die Eltern seien sogar erleichtert gewesen – und schilderten ihre Sicht. Der Vater berichtete, dass sein Sohn im Irak immer brav gewesen sei, nun gerate man ständig aneinander. Die Jugendamtsmitarbeiter versuchten, die Familie in den Stadtteil zu integrieren – auch Vater und Mutter. Sie machten dem Vater deutlich, dass er seinen Sohn nicht schlagen dürfe, selbst wenn dies in seinem Kulturkreis üblich ist. „Es gibt nicht zweierlei Kinderschutz in Deutschland“, betont Kiefl.

„Wir schützen die Kinder am besten, indem wir die Eltern stärken“, sagt sie. Es gehe darum, die Eltern dazu zu gewinnen, sich auf Hilfen einzulassen – ob es sich um Flüchtlingsfamilien handle oder um Familien ohne Migrationshintergrund.