Aufs Grausamste ist der kleine Leo vom eigenen Vater zu Tode gequält worden. Die Mutter bekam nur eine Bewährungsstrafe. Jetzt wird ihr Fall neu aufgerollt. Wo liegen die Probleme bei der Urteilsfindung in Fällen wie diesem?

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Tumulte sind in deutschen Gerichtssälen eher selten. Als das Landgericht Mönchengladbach (Nordrhein-Westfalen) am 31. Mai 2016 sein Urteil im Tötungsfall des kleinen Leo verkündete, musste der Vorsitzende Richter die Anwesenden jedoch deutlich zur Ruhe ermahnen; andernfalls lasse er den Saal räumen. Die lebenslange Haft für den 26-jährigen Vater des Babys wegen Mordes, Misshandlung von Schutzbefohlenen im besonders schweren Fall und sexuellen Kindesmissbrauchs hatten die Zuschauer noch zustimmend zur Kenntnis genommen. Als die Mutter zwei Jahre Haft auf Bewährung erhielt, war das Unverständnis groß. Schließlich hatte die Staatsanwältin für die 25-jährige Angeklagte wegen Totschlags durch Unterlassen eine Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verlangt. Auch der Bundesgerichtshof (BGH) war mit der Entscheidung nicht einverstanden. Von Montag an sitzt die Mutter erneut auf der Anklagebank.

 

Leo kam am 2. Oktober 2015 auf die Welt, ein kerngesundes Baby. 19 Tage später wurde er auf sadistische Weise vom eigenen Vater zu Tode gefoltert – wohl aus Eifersucht. Der Mann setzte sich minutenlang auf den Kopf des Kindes, schlug dessen Kopf mehrmals gegen die Tischkante. Die Qualen waren enorm. So verbrühte er den ihm ausgelieferten Säugling schon Tage nach der Geburt mit heißer Milch, missbrauchte ihn sexuell. Das Martyrium am Mordtag dauerte mehrere Stunden. Die Mutter war derweil im Nebenzimmer und gab an, von alledem nichts gemerkt zu haben.

Leo ist kein Einzelfall

Verurteilt wurde die Frau wegen Misshandlung Schutzbefohlener, doch dabei habe das Gericht eine mögliche Tatbestandsvariante nicht ausreichend geprüft, so der BGH. Den nun verhandelnden Kollegen gaben die Bundesrichter eine Art Handlungsempfehlung mit auf den Weg: „Der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter wird – wenn auch er einen Tötungsvorsatz der Angeklagten nicht sollte feststellen können – zu prüfen haben, ob möglicherweise eine Bestrafung auch wegen Körperverletzung mit Todesfolge oder fahrlässiger Tötung durch Unterlassen in Betracht kommt.“

Leo ist keineswegs ein Einzelfall. Laut Statistik sind zwischen den Jahren 2000 und 2016 insgesamt 3194 Kinder in Deutschland getötet worden. Und das ist nur das Hellfeld. „Kinder werden täglich Opfer von Gewalt und Misshandlung. Die Zahlen sind alarmierend“, sagt Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes. 133 getötete Kinder zählte die Polizeiliche Kriminalstatistik im Jahr 2016 – 100 von ihnen unter sechs Jahre alt. In den meisten Fällen waren die Täter die Eltern oder deren Lebenspartner.

So auch im Fall von Raphael aus Geislingen (Kreis Göppingen). Der Junge starb am 13. März 2011 im Alter von vier Jahren. Bei der Obduktion wurden schwerste Hirnverletzungen entdeckt: Schädelverletzungen, Blutergüsse. Im Prozess vor dem Landgericht Ulm beschuldigten sich die Mutter und ihr Lebensgefährte gegenseitig, 65 Zeugen wurden gehört. Doch wer den Jungen letztlich totgeprügelt hat, blieb ungeklärt. Fünf Jahre Haft für beide, entschied das Gericht. Im Gefängnis waren bisher allerdings weder die eine noch der andere.

BGH spricht von einer „schweren Entscheidung“

Vor wenigen Wochen hat der BGH das Ulmer Urteil gekippt. „Für uns war die Entscheidung sehr schwer“, sagte der Vorsitzende Richter des 1. Strafsenats, Rolf Raum. Aus Sicht des BGH aber habe das Landgericht die Mittäterschaft nicht hinreichend begründet: „Unterm Strich ist das nicht tragfähig.“ Eine andere Strafkammer muss nun den Fall neu bewerten.

„Erschütternd“ findet Sabine Maybaum, Vizevorsitzende des Vereins „schutzlos-wehrlos“, nicht nur das Schicksal der zu Tode misshandelten Kinder, sondern manchmal auch die Reaktionen der Justiz. Es sei nur schwer zu fassen, dass die toten Kinder nicht immer mit der vollen Härte des Gesetzes gesühnt werden, sagt Maybaum, deren Verein sich neben dem Gedenken auch zum Ziel gemacht hat, „zu mahnen, aufzuklären, zu informieren und zu handeln“. In erster Linie gehe es darum, Misshandlungen an Kindern zu verhindern. Wenn sie denn aber geschehen seien, sei auch eine gerechte Strafe nötig.

Im Namen des Volkes bedeutet gerechte Strafe bei Kindesmisshandlung meist, dass am Ende ein Täter hinter Gitter kommen soll. Genau da liegt das Problem. Oft gibt es keine Zeugen, weil die Taten überwiegend in den eigenen vier Wänden stattfinden. Und häufig schweigt der kleine Kreis der Tatverdächtigen – oder beschuldigt sich gegenseitig. Das führt nicht selten zu Ergebnissen, die alles andere als gerecht erscheinen. Beispiel Nürnberg: Als sie vier Wochen alt war, ist die kleine Nina so schwer geschüttelt worden, dass sie bleibende Hirnverletzungen davontrug. Der Prozess gegen die Mutter war zunächst vom Amts- an das Landgericht verwiesen worden, weil mit einer hohen Strafe zu rechnen war. Dann aber kam der Freispruch: Es konnte nicht geklärt werden, ob die Frau oder doch ihr Verlobter die Tat verübt hatten. Beispiel Oldenburg: Bei einem zwei Monate alten Säugling wurden insgesamt 26 Knochenbrüche festgestellt, doch der Prozess gegen die Mutter endete mit einem Freispruch. Auch der Stiefvater oder die Großmutter hätten die Täter sein können.

Wegen Schwarzfahrens ins Gefängnis

Ein völlig anderer Fall wirkt da für manche wie Hohn: Das Amtsgericht Augsburg verurteilte einen jungen Mann zu einer Haftstrafe von einem Jahr und fünf Monaten ohne Bewährung wegen Schwarzfahrens. Insgesamt 74-mal war der vorbestrafte 29-Jährige binnen drei Monaten erwischt worden. Rainer Becker, der Vorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, kommt zu der Einschätzung: „In Deutschland ist das Eigentum besser geschützt als das Kindeswohl.“ Im Blick hat er dabei in erster Linie die Strafandrohungen, die das Strafgesetzbuch vorsieht. Das Herunterladen von kinderpornografischem Material ist mit einer Höchststrafe von drei Jahren belegt, Ladendiebstahl mit fünf Jahren. „Das ist unverhältnismäßig“, sagt Becker.

Der Strafjustiz selbst will der ehemalige Polizeidirektor keine Vorwürfe machen. „Man kann als Außenstehender vielleicht nicht jedes Urteil nachvollziehen, kennt aber oft auch nicht alle Details“, sagt Becker. Schließlich werde gerade in solchen Fällen oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt. Was Becker auf die Palme bringt, sind die – juristisch erlaubten – Deals bei Straftaten gegen Kinder: „Das lehne ich kategorisch ab.“ Beispiel Ahrensburg: Ein Vater gibt zu, den zwei Monate alten Sohn fallen gelassen zu haben, das Baby erlitt einen mehrfachen Schädelbruch. Zeugen gibt es nicht, und obwohl vieles für Absicht spricht, einigen sich die Beteiligten auf eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung – die mit einer Geldstrafe in Höhe von 2700 Euro gesühnt ist.