Die Grünen sind über den Kampf gegen Großprojekte in die Politik gekommen. Das rächt sich jetzt, denn die starre Haltung Winfried Kretschmanns zu Stuttgart 21 wird den Bedürfnissen des Landes nicht gerecht, meint StZ-Redakteur Reiner Ruf.

Stuttgart - Stuttgart 21 steht mal wieder auf der Kippe – womöglich endgültig, wer weiß das so ganz genau in diesem heißgelaufenen Streit, der sich schon so lange mit einem hohen Erregungspegel durch Stadt und Land wälzt. Nun starrt alles auf das Treffen des Bahn-Aufsichtsrats, so wie zuvor alles auf diverse Lenkungskreissitzungen, auf die Volksabstimmung, die Landtagswahl und die Schlichtung geschaut hat. Und schon naht die Bundestagswahl. Wieder so ein möglicher Wendepunkt, auf den sich Hoffnungen und Besorgnisse richten. Im demokratischen Konsens kann dieses oder ein anverwandtes Projekt nicht mehr realisiert werden. Die viel gepriesene befriedende Wirkung der Volksabstimmung vom Herbst 2011 ist dahin – ein unübersehbarer Fingerzeig auf die Grenzen direkter Demokratie.

 

Alle reden, nur einer sagt nicht viel – und wenn, dann ist es immer dasselbe: „Die Volksabstimmung gilt“, wiederholt der Ministerpräsident wie ein Mantra. Es ist die stets gleiche Antwort auf Fragen wie: Wird Stuttgart 21 gebaut? Stirbt das Projekt? Und wenn ja, was geschieht dann? Man kann die Einsilbigkeit verstehen. Einen Teil des Respekts, den sich Winfried Kretschmann über Parteigrenzen hinweg erworben hat, verdankt er seiner souveränen Reaktion auf die Niederlage bei der Volksabstimmung. Jedes öffentliche Nachdenken über Alternativen trüge ihm den Vorwurf ein, von dieser Haltung abzurücken – in seinem jüngsten Brief an den Bahn-Aufsichtsrat lässt er indes erstmals die Bereitschaft erkennen, über Gegenentwürfe zu reden. Zu Stuttgart 21 bekennen will er sich aber auch nicht. Das verstörte seine Wähler. Und so repetiert er, verstrickt in taktische Erwägungen, den ewig gleichen Text.

Den Grünen fehlt der Sinn für Infrastrukturprojekte

Doch ein Ministerpräsident, der nichts Substanzielles zu einer der zentralen landespolitischen Fragen beitragen kann, ob sich nämlich das Kostendebakel um Stuttgart 21 zu einem Infrastrukturdebakel auswächst, hat ein Problem. Mag er auch mit Recht auf die originäre Zuständigkeit der Bahn inklusive deren inzwischen zu Tage getretenen Versäumnisse verweisen. Die Sorge um eine dem Wirtschaftsstandort angemessene Infrastruktur gehört zu den vornehmsten Aufgaben einer Regierung. Dafür fehlt den Grünen als stärkster Regierungspartei im Land nicht nur die Erfahrung, sondern erkennbar auch der Sinn.

Groß geworden sind sie im Kampf gegen Großprojekte aller Art – vom Widerstand gegen den Atommeiler Wyhl bis zum inzwischen wenigstens von Teilen der Partei als Fehler erkannten Protest gegen die Fildermesse. Selten sieht man einen prominenten Grünen im Einsatz zu Gunsten von notwendigen, in den eigenen Reihen jedoch umstrittenen Projekten – wie etwa den Stuttgarter Umweltminister Franz Untersteller im Falle des Pumpspeicherkraftwerks Atdorf. Nicht einmal den Bau von Windkraftanlagen, ihr zentrales Anliegen in der Energiewende, bringen die Grünen voran. Es bedurfte eines Weckrufs von SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel, um die Landesregierung aus ihrem Schlummer zu reißen. Ein Armutszeugnis.

Womöglich sind die Grünen in der Infrastrukturpolitik noch nicht über das Stadium der Protestpartei hinausgekommen. In der Opposition mögen sie sich wie andere Parteien auch darauf verlegen, den Protest, wo er auch auftaucht, zur Stimmenrekrutierung zu benutzen. Eine Regierung jedoch muss mehr bieten; sie muss gestalten. Für Stuttgart 21 bedeutet dies den Mut zu der Erkenntnis, dass erstens jede Alternative ebenfalls viel Geld kostet, Natur verbraucht, Menschen belastet und Widerstand provoziert und dass zweitens eine Infrastrukturruine inmitten der Landeshauptstadt auf Dauer die Regierungsfähigkeit von Grün-Rot dementiert. Regierungen, auch grün-rote, sollten ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Verhindern. Andernfalls bleibt am Ende nur das Scheitern.