Jetzt muss auch in Stuttgart eine Zeltstadt für Schutzsuchende aufgebaut werden. Selbst besonnenen Menschen wird es schwindelig im Angesicht der täglich steigenden Flüchtlingszahlen, kommentiert Holger Gayer.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart -

 

Zwischendurch reduzieren sich selbst die größten Katastrophen auf logistische Fragen. Wenn die Erde gebebt oder ein Tsunami gewütet hat, muss der Schock rasch überwunden und ganz schnell Hilfe organisiert werden. Dann werden praktische Fragen gestellt: Wie kommen Zelte, Decken, frisches Wasser an die Not leidenden Menschen, wie wird deren Hunger gestillt, wie kann ihre ärztliche Versorgung gewährleistet werden? Rotes Kreuz, Technisches Hilfswerk und viele andere segensreich wirkende Institutionen bringen sich an allen Ecken der Welt ein. Nur dass sie plötzlich auch so vehement vor der eigenen Haustür gebraucht würden, hätte vor wenigen Monaten wohl niemand geahnt. Doch jetzt müssen auch in Stuttgart Zelte aufgestellt werden, um weiteren Flüchtlingen wenigstens ein provisorisches Dach zu verschaffen. Sport- und Messehallen sind schon besetzt. Und im alten Paketpostamt wird eine zusätzliche Erstaufnahmestelle eingerichtet. Ist Deutschland in Not? Und Stuttgart mittendrin?

Man könnte es manchmal meinen. Selbst besonnenen Menschen wird es schwindelig im Angesicht der täglich steigenden Flüchtlingszahlen. Wer glaubt noch daran, dass es bis Silvester „nur“ 800 000 Frauen, Männer und Kinder gewesen sein werden, die 2015 in die Bundesrepublik geflohen sind? Die Million scheint möglich. Auch die Prognosen, dass der Flüchtlingsstrom bald abreißt, weil es kalt wird, dürften sich nicht erfüllen, im Gegenteil. Gerade jetzt, da der Winter dräut, sind noch mehr Menschen unterwegs als zuvor – eben weil sie Angst haben zu frieren. Wie klingt da das Kanzlerinnen-Wort? Wir schaffen das! Tun wir das wirklich?

Und wer erinnert sich nicht daran, wie Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn neulich noch verkündet hat, dass man am „Stuttgarter Weg“ der dezentralen Unterbringung von Flüchtlingen festhalten werde? Schall und Rauch. Der Wille ist zwar geblieben, aber die Realität sieht anders aus. Sie erfordert Container, Hallen, Zelte. Anders geht es nicht – in der Not.

Merkel muss sich wie Don Quijote fühlen

Dabei ist es kein Erdbeben und kein Tsunami, der die Menschen vertrieben hat. Es sind Krieg, Angst und Perspektivlosigkeit in zerbombten Gebieten. Es sind menschengemachte Katastrophen, deren Ursachen auch von Menschen gelöst werden müssen. Das kann freilich nicht in Stuttgart, Tübingen oder Heilbronn geschehen: Dort trägt man nur die Konsequenzen.

Was aber in New York und Brüssel (nicht) passiert, ist ein Skandal. Nirgendwo auf der großen Bühne der Vereinten Nationen zeichnet sich ab, wie der Bürgerkrieg in Syrien beendet werden könnte. Keiner in der Europäischen Union hat eine brauchbare – und mehrheitsfähige – Idee, wie die Grenzen vernünftig kontrolliert werden können, um den Zustrom zu kanalisieren. Dass dies notwendig ist, streitet zwar kaum noch jemand ab, aber Angela Merkel muss sich trotzdem wie Don Quijote fühlen, wenn sie wieder und wieder die Solidarität der europäischen Nachbarn beschwört. Man kann ihr nur wünschen, dass sie nicht müde wird ob des steten Kampfs gegen die Windmühlen von Budapest bis Warschau.

Nicht vergessen: Hinter jeder Zahl steckt ein Mensch

Was aber heißt das für uns? Wohl nichts weniger, als dass auch wir nicht müde werden dürfen in unserem Bemühen, die Not der Ankommenden so gut wie möglich zu lindern. Was hilft, ist die spürbare Kraft des gesunden Menschenverstands an der Basis der Bevölkerung – und ein gemeinsamer Wertekanon, der von Nächstenliebe geprägt ist, denn auch wenn die Flüchtlingszahlen steigen und steigen: die verständliche Wut über die unhaltbaren Zustände in der großen Politik darf sich keinesfalls gegen jene richten, die in ihrer Not hierher geflohen sind. Sie sind immer noch die Opfer, denen wir helfen müssen, indem wir die drängenden logistischen Fragen beantworten – und vor allem nie vergessen, dass hinter jeder Zahl ein Mensch steckt.