Ob Straße oder Schiene: das Verkehrschaos regiert in Stuttgart und der Region. Es reicht nicht, die Misere nur zur Kenntnis zu nehmen, meint der StZ-Redakteur Christian Milankovic. Die Politik muss das Problem endlich ernst nehmen.

Stadtentwicklung/Infrastruktur : Christian Milankovic (mil)

Stuttgart - Die Respekt einflößende Zahl von 827 000 Fahrzeugen passiert die Stuttgarter Stadtgrenzen. Täglich. Selbst wenn sich jeder Stuttgarter vom Säugling bis zum Greis hinters Steuer klemmen würde, wären nicht genug Fahrer da, diese Flotte in Bewegung zu setzen. Der Fahrzeugbestand in der Landeshauptstadt steigt – allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, wonach das Auto für den Einzelnen an Bedeutung verliere und die junge Generation keinen gesteigerten Wert auf ein eigenes Vehikel mehr lege. Dieser Trend wird zugegebenermaßen auch von den wachsenden Firmenwagenflotten getrieben. Doch im Stau sind alle gleich, die Besitzverhältnisse unerheblich.

 

Widerlegt sein dürften all jene, die sich sicher waren, dass Verkehr erntet, wer Straßen sät. Der Straßenausbau hat in den zurückliegenden Jahren in Stuttgart nur sehr zurückhaltend stattgefunden. Trotzdem hat der Verkehr enorm zugenommen. Zumindest der Umkehrschluss ist also nicht zutreffend: Wo der Ausbau der Infrastruktur vernachlässigt wird, gehen die Nutzerzahlen nicht zwingend zurück.

Selbst die Stadtbahn fällt aus

Der Umstieg auf die Schiene verspricht nur bedingt Linderung. Die Unzuverlässigkeit der S-Bahn ist hinreichend beschrieben, die auf mehreren S-Bahn-Gipfeln identifizierten Maßnahmen zur Beseitigung der Misere wohl noch nicht in vollem Umfang wirksam. Der unheilvolle Reigen aus Signal-, Weichen- oder Oberleitungsstörungen bremst die Pendler jedenfalls aus wie eh und je. Dass diese Woche mit der Stadtbahn dann auch noch ein System ausfiel, das bis dato als Inbegriff der Zuverlässigkeit galt, strapaziert die Nerven der Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel bis an den Rand des Erträglichen.

Noch ist nicht bekannt, was den Brand im Tunnel an der Weinsteige ausgelöst hat. Doch tags zuvor hatte Wolfgang Arnold, Stuttgarts oberster Straßenbahner, bereits das Ende der Ausbauphase bei den Stuttgarter Straßenbahnen eingeläutet und den Beginn einer Ära der Ertüchtigung angekündigt. Dass man nicht sorgsam genug mit der Infrastruktur umgehen kann, sieht man an den S-Bahnstrecken, wo dieses nur unzureichend geschehen ist. Andererseits: ein lediglich in Schuss gehaltenes Stadtbahnnetz gerät ohne weiteren Ausbau schnell an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Übervolle Bahnen wiederum laden kaum zum Umstieg vom Auto ein. Den aber wollen etwa Stadt und Land ihren Bediensteten schmackhaft machen, indem es einen ordentlichen Zuschuss fürs Ticket gibt.

Die Politik muss handeln

Damit sind wir dort angelangt, wo etwas geschehen muss. Es ist die Politik in Stadt und Land, die die Misere auf Straße und Schiene in Stadt und Region zur Kenntnis, aber vor allem endlich ernst nehmen muss. Es ist Oberbürgermeister Fritz Kuhn unbenommen, den Autoverkehr in der Stadt um 20 Prozent reduzieren zu wollen. Ob es auch realistisch ist, darf zumindest angezweifelt werden. So wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Blick auf die Flüchtlingskrise postuliert hat, die Grünen müssten sich von so mancher lieb gewonnenen Gewissheit verabschieden, so folgerichtig wäre es angesichts des zu- statt abnehmenden Verkehrs, über dessen Verflüssigung statt dessen Bekämpfung nachzudenken. Dass die Lösung des Problems nicht alleine im Rathaus gefunden werden kann, liegt auf der Hand. Aber Fritz Kuhn ist nicht nur Oberbürgermeister, sondern eben auch stellvertretender Präsident der Regionalversammlung. Genau die repräsentiert das Gebiet, in dem ein Gutteil des Verkehrsaufkommens entsteht. Und schließlich hat der Landesverkehrsminister Winfried Hermann dasselbe Parteibuch wie der OB.

Das immergrüne Mantra, wonach ein Weniger an Verkehr ein Mehr an Lebensqualität bringt, ist nur die halbe Wahrheit. Ein Dasein in Stau und Stillstand mindert das Wohlbefinden ebenfalls.