Der Freispruch für den Polizisten, der in Ferguson einen unbewaffneten Schwarzen tötete, löst Proteste und Unverständnis aus – bis hin zum Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Ferguson - Es wird noch Stunden dauern, bis tatsächlich etwas passiert. Aber Jason Johnson hat schon eine Vorahnung, als er am Montagnachmittag seine Feldstudie beginnt. Der hochgewachsene Afroamerikaner, der in einem College oben am Eriesee politische Wissenschaften lehrt und mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält, sitzt in einem kleinen Restaurant in einer Vorstadt von St. Louis und sagt zwischen zwei Löffeln einer scharfen Suppe: „Wilson wird nicht angeklagt, so viel ist sicher. Aber das überrascht mich nicht im Geringsten.“ Wann habe schon jemals eine mehrheitlich mit Weißen besetzte Jury einen weißen Polizisten verurteilt, der einen schwarzen Jugendlichen getötet hat?

 

Johnson lässt seine Worte wie eine Frage wirken, auf die er keine Antwort geben will. Er zieht die Augenbrauen hoch. Es sieht so aus, als wolle er sagen:  Selbstverständlichkeiten muss man nicht gesondert betonen. Dann äußert sich Johnson aber doch noch: „So ist das eben bei uns in Amerika.“ Vier Stunden später ist klar: der Herr Professor hatte recht. Wieder einmal.

Es ist schon später Abend im Bundesstaat Missouri, als Staatsanwalt Bob McCulloch gewissermaßen den Startschuss für eine Nacht gibt, in der die Gewalt wieder einmal die Kleinstadt Ferguson im US-Bundesstaat Missouri beherrscht. Die Szenen erinnern an die Tage nach dem 9. August, als schwere Straßenschlachten ausbrachen, weil der weiße Polizist Darren Wilson den unbewaffneten schwarzen Jugendlichen Michael Brown erschossen hatte. Seither hoffen die Afroamerikaner von Ferguson darauf, dass Wilson für diese Tat vor Gericht gestellt wird. Schon dreieinhalb Monaten hoffen sie.

Doch Ankläger McCulloch lässt am Montagabend Ortszeit alle Hoffnungen mit einem Satz verfliegen. Der Staatsanwalt hätte selbst gegen Wilson ermitteln und ihn anklagen können. Aber er hat die Verantwortung an zwölf Laien abgegeben. Das lassen die Gesetze im Staat Missouri zu. Das Gremium besteht aus zwölf Geschworenen, deren Namen nicht bekannt sind. Es heißt aber, es seien neun Weiße und nur drei Afroamerikaner gewesen, die seit dreieinhalb Monaten in dem festungsähnlichen Gerichtsgebäude zusammentrafen und berieten, ob der Polizist Wilson eine Straftat begangen hat. Wie die Beratungen liefen, weiß niemand, denn eine Grand Jury trifft sich grundsätzlich hinter verschlossenen Türen. Es sei eine Art Geheimgericht, sagen Kritiker, und dazu noch eines, in dem die Weißen in der Mehrzahl sind.

Die Grand Jury sieht keinen hinreichenden Verdacht

Ankläger McCulloch sieht das anders. Er sagt in gestelztem Juristen-Englisch, dass die Grand Jury keinen „hinreichenden Verdacht für irgendwelche Anklagepunkte“ gefunden habe. 60 Zeugen hörten die Juroren. Auch Darren Wilson sagte aus, vier Stunden lang. Wie aus seinen Aussagen hervorgeht, die am Abend der Entscheidung frei gegeben werden, fürchtete der Beamte am 9. August um sein Leben, nachdem er dem afroamerikanischen Jugendlichen gesagt hat, er solle von der Straße verschwinden. Brown sei so groß gewesen, „und ich fühlte mich so klein“.

Staatsanwalt McCulloch räuspert sich und fährt in unterkühltem Ton fort. Es sei keine Frage, „dass Darren Wilson den Tod von Michael Brown verursacht hat“. Aber der Polizist habe in Notwehr gehandelt, weil er sich von dem 18 Jahre alten Jugendlichen bedroht gefühlt habe. Außerordentlich bedroht sogar. Wilson, so das Urteil der Geschworenen, habe zwölf Schüsse auf Brown abgegeben, sechs bis sieben der Kugeln trafen ihn.

Minuten nach McCullochs Ausführungen fuchtelt Erin Borders hektisch mit dem rechten Zeigefinger in der Luft herum.  „Ich habe so gehofft, dass Wilson vor Gericht gestellt wird“, sagt die Mittzwanzigerin, die vor die Polizeiwache von Ferguson gekommen ist, um friedlich zu demonstrieren. „Aber das, was jetzt passiert ist, das ist doch verrückt“, entfährt es der zierlichen Studentin. Dann erzählt Borders, wie das Leben für eine Afroamerikanerin in Ferguson sei. Das Städtchen sei mehrheitlich von Schwarzen bewohnt, die Polizei aber sei von Weißen dominiert. „Wenn er mit dem Auto fährt und angehalten wird, dann, weil er zu schnell gefahren ist“, sagt sie und zeigt dorthin, wo ein weißer Kommilitone steht. „Wenn ich angehalten werde, dann, weil ich die falsche Hautfarbe habe. Das muss doch irgendwann ein Ende haben.“

Die Liste verdächtiger Vorfälle wird immer länger

Professor Jason Johnson nennt das strukturellen Rassismus. „Viele Weiße glauben immer noch, dass Afroamerikaner gefährlich sind. Und vor allem glauben sie, dass die Polizei immer recht hat“, sagt der Politologe. Das führe zu Gewalt der Beamten gegen Schwarze, die dann ungesühnt bleibe. Daran habe sich auch seit dem Ende der Rassentrennung vor 50 Jahren nichts geändert. Beispiele gibt es viele. Bald ist es 24 Jahre her, dass der Bauarbeiter Rodney King von Polizisten in Los Angeles verprügelt wurde, was gewaltige Unruhen auslöste. Auch der Tod von Michael Brown in diesem Sommer brachte keine Änderung des Musters. Im Oktober starb Vonderrit Myers in St. Louis, weil ein Polizist auf ihn schoss. Und am Wochenende erst wurde in Cleveland ein afroamerikanischer Junge von einem Beamten in einem Park erschossen. Der Polizist fühlte sich offenbar bedroht, weil der Zwölfjährige mit einer Waffe hantierte. Erst später stellte sich heraus, dass es eine Spielzeugpistole war.

Oft ist im Nachhinein nicht mehr festzustellen, ob tatsächlich eine Notwehrsituation oder rassistische Motive vorlagen. Aber Statistiken belegen, dass die Diskriminierung von Minderheiten systemimmanent ist. Vor allem trifft es Schwarze, und meistens sind es junge Männer.

Das weiß auch Barack Obama, der erste schwarze Präsident der Vereinigten Staaten. Er will am Montagabend Schlimmeres verhindern. Nur wenige Minuten nachdem in St. Louis die Entscheidung der Grand Jury bekanntgegeben worden ist, tritt er im Weißen Haus in Washington vor ein Mikrofon und appelliert an alle Beteiligten, besonnen zu bleiben. Dann wird Obama aber grundsätzlicher. Er sagt, die Situation in Ferguson spiegele „eine breitere Situation wider, der wir als Nation weiterhin gegenüberstehen“. In vielen Region des Landes „herrscht ein tiefes Misstrauen zwischen Polizeikräften und den schwarzen Gemeinden. Das ist zum Teil auch das Resultat des Erbes der Rassendiskriminierung.“ Heißt: Ferguson ist überall.

Obamas Worte verhallen. Mehrere Hundert Demonstranten machen Krawall in Ferguson. Die Nachricht, dass Darren Wilson nicht angeklagt wird, verbreitet sich in Sekundenschnelle unter den Demonstranten, die bis zu diesem Zeitpunkt friedlich vor der Polizeiwache der Stadt demonstriert haben. Noch rufen sie „Keine Gerechtigkeit, kein Frieden“, bald aber sind Beschimpfungen wie „Fuck the police“ zu hören. Die Polizei setzt Reizgasgranaten ein. Nur Minuten später steht auf der Hauptstraße von Ferguson ein Streifenwagen in Flammen, Schüsse sind zu hören. Die Studentin Erin Borders hebt den Kopf, um sehen zu können, ob die Tränengasschwaden in ihre Richtung wehen. Dann sagt sie: „Polizisten sind Menschen, und Menschen machen Fehler, für die sie sich verantworten müssen.“ Es klingt, als wolle sie immer noch nicht glauben, dass Darren Wilson davonkommen wird.