Rund 200 Armenier sind am Freitag vor das türkische Generalkonsulat am Kernerplatz gezogen und forderten dort von der Türkei, sich zu den Massakern an der armenischen Bevölkerung 1915 als Genozid zu bekennen.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Es ist ein unwirtlicher Ort direkt an einer Baustelle. Die Menschen stehen dicht beieinander, viele sind schwarz gekleidet. Auf den Hemden und Jacken haben sie Aufkleber mit einer violetten Blüte – ein Vergissmeinnicht. Junge Leute tragen um den Körper die armenische Flagge in rot, blau und orange, viele haben Protesttafeln dabei: „100 Jahre Schweigen“, „Türkei kein Respekt“, „Genozid 1915: gegen das Vergessen“ ist zu lesen.

 

Der Marsch in die Wüste

Am Rande des Sammelplatzes im Kernerviertel steht Garo Karabetyan. Der 74-Jährige hält ein Foto mit einem schwarzen Rahmen vor der Brust. In einem ovalen Passepartout ist ein Junge in ärmlicher Kleidung zu sehen, bei der Aufnahme war er zehn Jahre alt. „Das ist mein Vater“, erzählt Garo Karabetyan. Im Zuge der Vertreibung von Armeniern durch die osmanischen Machthaber wurde Karabetyans Familie in der Osttürkei auf einen „Marsch in die Wüste“ geschickt. Alle kamen um – bis auf die Großmutter und seinen Vater. Auf dem Todesmarsch ließ die Oma den Jungen in einem kurdischen Dorf zurück, und schlug sich zuletzt selbst nach Istanbul durch. Jahre später holte sie den Sohn zu sich. Garo Karabetyan wurde also in Istanbul geboren, dort lebte er, bis er 1969 als Gastarbeiter nach Deutschland kam.

„Über den Völkermord an den Armeniern wurde in der Türkei nie gesprochen“, erinnert sich der 74-Jährige. Selbst in seiner Familie nicht. „Auch privat durften wir kein Wort Armenisch reden“, erzählt Garo Karabetyan. Die Kinder hätten sich irgendwo verplappern können. Der Rentner ist deshalb froh, dass über das Schreckliche endlich öffentlich gesprochen wird.

Rund 5000 Armenier leben im Land

Der Protestzug, laut Polizei rund 200 Frauen und Männer, bewegt sich zum Kernerplatz vor das türkische Generalkonsulat. „Anerkennung“ und „Stoppt die Leugnung“ skandieren sie. „Wir stehen hier als ein Zeichen des Lebens“, ruft Pfarrer Diradur Sardaryan mit dem Megafon hinüber zum Konsulat. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hänge die türkische Flagge auf halbmast, doch das täuscht, der Wind hat nur die Fahne um die Stange gewickelt.

Etwa 5000 Armenier leben in Baden-Württemberg, circa 1500 in der Region Stuttgart, sagt Diradur Sardaryan. Sie pflegen bis heute eine enge Verbindung untereinander, in den langen Jahrhunderten ohne eigenes Staatsgebiet stark vermittelt durch die orthodoxe armenische Kirche. „Die Armenier betrachten die Kirche als ihre Mutter“, sagt der Pfarrer.

Nach einem Gedenkgottesdienst auf dem Steinhaldenfriedhof fand am Freitagabend in der evangelischen Lutherkirche in Bad Cannstatt eine Gedenkveranstaltung statt, an der auch OB Fritz Kuhn (Grüne) teilnahm. Für die Diözese Rottenburg-Stuttgart forderte der Domkapitular Heinz Detlef Stäps „die Anerkennung der Wahrheit“ durch die Türkei, also dass an den Armeniern ein Genozid begangen worden sei. Der evangelische Landesbischof Frank Otfried July verlangte ein „ehrliches Erinnern“ und räumte eine Mitschuld der deutschen Politik „durch Nichtstun oder gar Vertuschung“ ein. Für das Land erklärte Landtagsvizepräsidentin Brigitte Lösch (Grüne): „Versöhnung erfordert das Bekenntnis zu den eigenen Verbrechen.“