Bisher behandeln Ärzte chronische Schmerzen oft nicht angemessen. Doch künftig wird jeder angehende Mediziner dazu besonders ausgebildet, denn die Approbationsordnung ist geändert worden. Ein „Meilenstein für die Patienten“, sagen Experten.

Stuttgart - Beim Arbeiten oder Spielen am Computer sitzt man oft viel zu lange und in einer verkrampften ungesunden Haltung. Da können der Nacken und der Rücken schon einmal wehtun. Diese Art der Rückenschmerzen kennen wohl die meisten Menschen, und die Schmerzen gehen auch wieder weg. Bei Millionen von Patienten werden sie jedoch heftiger und bleiben länger. Nicht selten wird daraus schließlich ein chronisches Leiden. Der Schmerz wird zum ständigen Begleiter und macht den Alltag zur Qual.

 

15 Millionen Deutsche leiden unter chronischen oder zumindest wiederkehrenden Schmerzen – wobei die Pein auch andere Organe betrifft, etwa den Kopf oder die Gelenke. Das müsste aber nicht so sein, erklärt Gerhard Müller-Schwefe, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie. Bei einem Großteil der Betroffenen könnten die chronischen Schmerzen durch gezielte Prävention und die richtige Therapie verhindert werden.

Die Schmerzmedizin wird Pflichtfach im Studium

Dafür stehen die Chancen nun etwas besser, denn die Schmerzmedizin wird zum Pflichtfach im Medizinstudium. Künftig werden alle angehenden Ärzte auf dem Gebiet der Diagnostik, Therapie und Prävention chronischer Schmerzen ausgebildet. Die Universitäten sind jetzt verpflichtet, Schmerzmedizin zu unterrichten, und von 2016 an müssen Medizinstudenten, die sich zum zweiten Staatsexamen anmelden, entsprechende Leistungsnachweise vorlegen. In diesem Jahr hat der Bundesrat der Änderung der Approbationsordnung für Ärzte zugestimmt.

„Das ist für die Patienten ein Meilenstein“, sagt Müller-Schwefe. Auch die deutsche Schmerzliga begrüßt die Änderung der Approbationsordnung. Beide Gesellschaften freuen sich, dass ihre jahrelangen Bemühungen endlich Früchte tragen. Diesem ersten Schritt müsse jedoch ein zweiter folgen: „Wir brauchen nicht nur eine bessere Ausbildung aller Ärzte in Schmerzmedizin, sondern zusätzlich den Facharzt für Schmerzmedizin, der für die Behandlung der komplexen Probleme von Menschen mit chronischer Schmerzkrankheit qualifiziert ist“, sagt der Göppinger Mediziner Müller-Schwefe.

Schmerztherapie wird im Medizinstudium bisher in vielen Teilfächern unterrichtet. Doch mit chronischen Schmerzen sind die meisten Ärzte überfordert. Sie behandeln die tägliche Pein oft nicht adäquat: Entweder der Patient wird operiert oder ihm wird erklärt, eine organische Ursache sei nicht zu finden. Viele der Betroffenen wandern von Arzt zu Arzt, ohne dass ihnen geholfen werden kann. Es wäre ein Fortschritt, wenn Mediziner die Symptomatik erkennen und den Patienten an den Schmerzmediziner überweisen könnten.

Mit der Zeit brennt sich der Schmerz im Gedächtnis ein

Das könnte sich auch finanziell lohnen. Allein Rückenschmerzen verursachen jedes Jahr Kosten von fast 50 Milliarden Euro – und nur der geringste Teil wird für die Therapie ausgegeben. Vielmehr müssen Arbeitsunfähigkeit und Frührente bezahlt werden. Bei richtiger Behandlung könnte dies verhindert werden.

Dafür muss man jedoch die verschiedenen Facetten des Schmerzes verstehen, denn der chronische Schmerz ist eine eigenständige Krankheit. Von einer eigenen Erkrankung spricht man, wenn die Pein dauerhaft anhält und schließlich zum tagesbestimmenden Faktor wird. Ganz anders als der akute Schmerz, der dem Körper als wichtiges Warnsignal dient, ist der chronische Schmerz aus biologischer Sicht nicht sinnvoll. Dieser Schmerz wird nicht mehr durch eine Reizung oder Verletzung ausgelöst, sondern besteht eigenständig. Der Patient empfindet dies als Bedrohung, sein Alltag wird von der Angst bestimmt. Die falsche Behandlung lässt dem Schmerz Zeit, sich fest genug ins Nervensystem und damit ins Gedächtnis einzubrennen.

Lange anhaltende oder häufig wiederkehrende Schmerzreize verändern das Nervensystem, sowohl in den leitenden Bahnen im Körper als auch im Gehirn. Die Schaltstellen zwischen den Nervenzellen werden durch die ständige Ausschüttung körpereigener Botenstoffe sensibler und reagieren schließlich auch auf sehr schwache Reize. Im schmerzleitenden System gibt es zwar nicht nur Nervenzellen, die bei Reizüberflutung mit einer Übererregung reagieren. Das schmerzempfindliche System des Körpers ist eigentlich gut gerüstet; akute Schmerzen können gut kontrolliert werden. Rasen etwa bei Verletzungen die Schmerzimpulse über Nervenbahnen in Richtung Gehirn, wird sofort eine Schmerzbremse eingeschaltet. Doch bei ständigen Impulsen wird diese Bremse nach und nach gestört – und jeder noch so schwache Reiz gelangt ins Gehirn.

Gesucht wird für jeden Patienten die individuelle Therapie

Damit ein solches Schmerzgedächtnis nicht entsteht, muss man sofort mit der entsprechenden Schmerztherapie gegenwirken. Mit verschiedenen Kombinationstherapien, die je nach Schmerzform und Empfinden des Patienten individuell erarbeitet werden sollten, kann ein chronisches Leiden verhindert werden. Dazu gehört zunächst ein gründliches Gespräch, eine klare Unterscheidung zwischen akutem und lang andauerndem Schmerz. Daraufhin wird eine individuelle Behandlungsstrategie entwickelt.

Weil jeder Patient seine eigene Erfahrungen mache, so erklärte Müller-Schwefe den Lesern der Stuttgarter Zeitung vor einiger Zeit bei der „Leser-Uni“, müsse es auch für jeden Patienten einen eigenen Weg in der Behandlung geben. Dieser könne kurz, aber auch lang sein. Die maßgeschneiderte, individuelle Schmerztherapie dürfe nicht die Ausnahme bleiben, sondern müsse Standard werden. Und der Experte weiß, wovon er spricht: Nach einem schweren Skiunfall litt er unter starken Schmerzen und kämpft noch heute immer wieder damit. Doch die richtige Schmerztherapie und die regelmäßige Einnahme wirksamer Medikamente helfen ihm wie auch anderen Schmerzgeplagten im Alltag.