Der Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat sich zusammen mit der Regisseurin das Kinoporträt der großen Philosophin „Hannah Arendt“ angeschaut – und will damit zeigen, dass er anders ist als andere Politiker.

Stuttgart - In seinem 1976 erstmals erschienenen Aufsatz über „Hannah Arendts Begriff der Macht“ setzt sich der Philosoph Jürgen Habermas mit dem politischen Denken seiner großen Kollegin auseinander – und vergleicht deren Machtbegriff mit der klassischen, von Max Weber geprägten Vorstellung, Machtausübung sei als zielgerichtetes und zweckrationales Handeln zu verstehen, bei dem der Machtausübende – so Habermas‘ Paraphrase – „über Mittel verfügt, die den anderen zu dem gewünschten Verhalten veranlassen“. Oder in der gehärteten Formulierung Max Webers: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstrebende durchzusetzen.“

 

Bei Hannah Arendt, der 1933 erst nach Frankreich, dann in die USA emigrierten deutsch-jüdischen Philosophin, klingt das freundlicher: „Macht entspringt der Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“

Allein schon dieser Satz mag erhellen, weshalb sich Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann sich schon seit langer Zeit dem Denken Hannah Arendts verpflichtet weiß. Macht ausüben – das bedeutet für Hannah Arendt nicht die mehr oder weniger subtile und camouflierte Anwendung von Gewalt, sondern soziale Interaktion. Jürgen Habermas, der Konstrukteur des „herrschaftsfreien Diskurses“, versteht das so: „Die kommunikativ erzeugte Macht gemeinsamer Überzeugungen geht darauf zurück, dass sich die Beteiligten an Verständigung orientieren und nicht am jeweils eigenen Erfolg“. Von daher ist es nicht mehr schwer zu verstehen, weshalb der Grünen-Politiker Kretschmann die politische Denkerin Hannah Arendt zur „Philosophin der Bürgergesellschaft“ erhebt. Macht, sagt der Amtsträger Kretschmann, manifestiere sich bei ihr nicht in Amtsmacht und schon gar nicht in Gewalt, sondern in der gemeinsamen Beratung der Bürger.

Ein hübscher PR-Coup des Staatsministeriums

Ob Kretschmanns politische Praxis diesem Anspruch stets gerecht wird? Jedenfalls wusste das Staatsministerium den vor einigen Wochen in die Kinos gekommenen Film „Hannah Arendt“ für einen hübschen PR-Coup zu nutzen: In Anwesenheit der Regisseurin Margarethe von Trotta versenkte sich der Ministerpräsident zusammen mit seiner Frau Gerlinde im „Atelier am Bollwerk“ in die Betrachtung seiner intellektuelle Muse Hannah Arendt, fantastisch gespielt von Barbara Sukowa, die schon vor einem Vierteljahrhundert unter Trottas Regie Rosa Luxemburg verkörpert hatte.

Kretschmann zitiert Hannah Arendt in seinem politischen Alltag gern und oft; inzwischen vielleicht zu oft, aber doch in einer Weise, die dem Zuhörer Anlass zu der begründeten Hoffnung gibt, dass der Ministerpräsident die Philosophin tatsächlich gelesen und wirklich durchdrungen hat. Bei gelinde gesagt nicht wenigen Politikern ist es ja eher so, dass da abgelebte Zitate fallen gelassen werden wie Kaugummipapier. Kurzum: die Kinoschau war geeignet, das intellektuelle Profil des grünen Ministerpräsidenten im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu schärfen.

Freilich begegnete Kretschmann im Film einer – doch sehr hagiografisch angelegten – Hannah Arendt, die nicht als lichtvolle, freundlich Denkerin demokratischer Beteiligung auftritt, sondern in der düsteren, heldenhaft-einsamen Reflexion nationalsozialistischer Gewalt. Der Film konzentriert sich ganz auf Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem“ und dessen Folgen für die Wahrnehmung des NS-Systems, mehr aber noch für Arendt, die sich fortan heftiger Kritik und Anfeindung ausgesetzt sah. „Der Film ist mir schon sehr unter die Haut gegangen“, sagte Kretschmann hinterher. Und äußerte auch sanfte Kritik an seiner Säulenheiligen: „Die Kritik an den Judenräten ist sicher überzogen.“

Eine Verharmlosung des NS-Terrors?

Arendt hatte den Vertretern der jüdischen Gemeinden übertriebene Kooperationsbereitschaft mit den Nazis vorgeworfen. Das brachte ihr den Vorwurf der Arroganz und Gefühllosigkeit ein. Das auf Adolf Eichmann bezogene Wort von der „Banalität des Bösen“ wurde ihr - eher zu Unrecht - als Verharmlosung des NS-Terrors ausgelegt. Mag sich Eichmann auch im Prozess verstellt und als bloßer Befehlsempfänger getarnt haben: Die Monströsität des Nationalsozialismus wurde getragen von zum Teil lachhaften Figuren, zum Teil von ganz normal erscheinenden Menschen. Man lese nur Christopher Brownings Klassiker über die Polizeibataillone im Osten: „Ganz normale Männer.“

Hannah Arendt diagnostiziert im Film bei Eichmann einen Mangel an selbstbestimmten Denken. Aus dem Publikum kam anschließend die sehr berechtigte Frage, ob Arendt nicht falsch liege und den Nazis und ihren Helfershelfern nicht eher ein Mangel an Fühlen, an Mitleid vorzuwerfen sei. Auf diesen Einwurf wusste Kretschmann auch keine überzeugende Antwort, außer der naheliegenden, dass Hannah Arendt eben einen Denkerin gewesen sei. „Dass kann nicht wundern, dass eine Denkerin zu dieser These kommt.“