Vor zwei Jahren stießen die Schweizer Brüssel noch vor den Kopf. Das bereuen sie inzwischen, erfuhr Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann bei seinem Besuch in Bern und Zürich.

Bern/Zürich - Am Donnerstag noch hatte Winfried Kretschmann im Garten der deutschen Botschaft in Bern ein Obstbäumchen gepflanzt. Es war ein Zeichen der Hoffnung am Tag vor der Entscheidung über den Brexit. Martin Luther soll ja angeblich gesagt haben, selbst wenn er wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde er heute ein Apfelbäumchen pflanzen. Das tat der baden-württembergische Ministerpräsident denn auch: gemeinsam mit Botschafter Otto Lampe und dessen Kollegin Doris Frick aus Liechtenstein setzte er ein Apfelbäumchen und ein Zwetschgenbäumchen ein, wobei er allerdings im dunkeln Anzug eher symbolisch mit dem Spaten hantierte.

 

Vorderhand hatte die Aktion einen ganz anderen, weniger dramatischen Hintergrund. Botschafter Lampe und dessen Kollegin Frick hatten eine Patenschaft für Wildbienen übernommen, um auf das auch in der Schweiz virulente Problem des Bienensterbens aufmerksam zu machen. Auf der Wiese hinter der Botschaftskanzlei ließ der Diplomat Bienenhäuschen aufstellen, um einer Population von Wildbienen eine Heimat zu geben. Wildbienen sind besonders effektive Obstbaum-Bestäuber, Kretschmann – ein versierter Biologe – besorgte den Tierchen mit der Pflanzaktion gewissermaßen einen fruchtbringenden Arbeitsplatz.

Nerven der Eidgenossen liegen blank

Am Freitagmorgen wirkt Kretschmann dann allerdings tatsächlich so, als stünde das Jüngste Gericht unmittelbar bevor. Auf die Nachricht, dass die Briten für den Brexit gestimmt hatten, war er nicht wirklich vorbereitet gewesen. So unvernünftig würden die Menschen im Land des Common Sense doch kaum handeln! Waren sie aber doch.

Kretschmann sitzt inzwischen im Zug von Bern nach Zürich. Er beklagt das Erstarkten rechtspopulistischer Bewegungen, die mit ihrer „hemmungslosen Demagogie“ die Hauptursache auch der Loslösung Großbritanniens von der Europäischen Union seien. „Diese Entscheidung erschüttert Europa in den Grundfesten“, sagt er. „Das ist ein schwarzer Freitag für Europa.“ Der Ministerpräsident zieht eine Parallele zur Schweiz, deren Beziehungen zur EU mit der im Februar 2014 angenommenen Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“ ins Rutschen gerieten. Die EU machte den Schweizern umgehend klar, dass sie nicht die Freizügigkeit für EU-Bürger einschränken, gleichzeitig aber ihrerseits ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt beanspruchten könnten. Seither liegen die Nerven der Eidgenossen blank. Kretschmann sagt, auch Politiker der rechtspopulistischen SVP hätten nun eingesehen, dass die Volksinitiative gegen Einwanderung nicht der Weisheit letzter Schluss gewesen sei. „Jetzt werden sie von ihren eigenen Sprüchen eingeholt.“

Kretschmann warnt vor Strafaktionen gegen Briten

Das Thema spielte bei Kretschmanns Schweiz-Visite neben dem Streit über den Fluglärm rund um den Flughafen Zürich und Fragen des Bahnverkehrs eine herausragende Rolle, auch beim Gespräch mit Bundespräsident Johann Schneider-Ammann in Bern. Die Schweizer erhoffen sich von Deutschland Unterstützung bei den Verhandlungen mit Brüssel. Es geht ja nicht nur um Personenfreizügigkeit. Das gesamte Vertragswerk mit der EU steht in Frage. So ist zum Beispiel auch die Einbeziehung der Schweiz in den europäischen Wissenschaftsverbund akut gefährdet.

Aber auch Baden-Württemberg hat Interesse an einer Einigung. Schließlich sind von der Masseneinwanderungsinitiative auch 56 000 Grenzgänger aus Deutschland betroffen, von denen die meisten naturgemäß aus dem Südwesten zu ihrem Arbeitsplatz in der Schweiz pendeln. „Wir müssen mit den Schweizern aus wohlverstandenem Eigeninteresse zu Regelungen kommen“, sagt Kretschmann. Ganz einfach werde das nicht, er spricht von der „Quadratur des Kreises“. Der Brexit mache eine Einigung mit den Schweizern nicht einfacher.

Der Grund: Die EU werde den Briten schon deshalb kaum entgegenkommen können, um nicht auch bei EU-Gegnern in anderen Mitgliedsländern den Eindruck zu wecken, man könne die EU verlassen, deren Vorteile aber weiter genießen. In Zürich trifft sich Kretschmann mit Unternehmern. Die EU solle nicht mit Strafaktionen auf den Brexit reagieren, sagt er. Das finden die Schweizer auch.