Seit zwei Jahren ist Winfried Kretschmann grüner Ministerpräsident in Baden-Württemberg und pflegt einen präsidialen Gestus. Das kommt bei den Wählern gut an, Teile seiner Partei hätten ihn gern härter. Kretschmann hat aber auch erkannt, dass er auf seine Partei zugehen muss.

Stuttgart - Winfried Kretschmann ist viel unterwegs in jüngerer Zeit. Sein Amt als Bundesratspräsident erfordert Engagement und produziert Termine. Mitunter auch solche, die wie die Amtseinführung von Papst Franziskus in der vergangenen Woche den Ministerpräsidenten ganz durchdringen. Zwischendurch geht es wieder zurück nach Stuttgart, wo im Ringen um die Beamtenbesoldung beim Koalitionsfrühstück im Landtagsrestaurant eine gemeinsame Linie gezogen werden muss. Kaum sind das Dejeuner (unter anderem mit Claus Schmiedel, SPD) und die Beamten-Pressekonferenz (mit Nils Schmid, SPD) überstanden, führen die Amtsgeschäfte den Stuttgarter Regierungschef zum Sondergipfel der Ministerpräsidenten nach Berlin. Die Energiewende, die dort verhandelt wird, erfordert das besondere Augenmerk Winfried Kretschmanns. Und das, wo es doch bereits den Abstecher, jetzt wieder als Bundesratspräsident, in die Niederlande vorzubereiten gilt. Wenigstens munden die Kekse bei Königin Beatrix ganz vorzüglich.

 

Guter Winfried, böser Winfried

Zu den bislang noch ausbaufähigen Versuchen der Opposition im baden-württembergischen Landtag, die grün-rote Koalition zu bedrängen, gehört auch das Bemühen, Kretschmann als zwar honorigen, aber doch ganz und gar untypischen Grünen-Politiker auszumalen. Der Mann sei zwar als Mensch ganz in Ordnung, so die Botschaft, doch für die Grünen und deren Politik stehe er nicht. Er präsidiere nur, Fakten schafften andere – so wie zum Beispiel Verkehrsminister Winfried Hermann, der das Projekt Stuttgart 21 hintertreibe, wo er nur könne. FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke hielt den Grünen bei der jüngsten Stuttgart-21-Debatte im Landtag ein Doppelspiel vor: der „gute Winfried“, gemeint war Kretschmann, bekenne sich zur Volksabstimmung, der „böse Winfried“, gemeint war der Verkehrsminister, torpediere und sabotiere Stuttgart 21.

Ein solches Manichäertum würden die Grünen noch immer mit Abscheu und Empörung von sich weisen, aber der Zug ins Präsidiale, den ihr Regierungschef in Stil und Haltung an den Tag legt und der bei den Regierten so gut ankommt, ist auch ihnen inzwischen nicht mehr geheuer. Dass Kretschmann nur eine Karenzzeit in Sachen Besoldungserhöhung der Beamten aushandeln konnte, nicht aber die erstrebte nachhaltig wirksame Deckelung der Gehaltszuwächse – nun gut, darüber hätten sie noch hinwegsehen können. Das Beamtenrecht gehört nicht zu den Leib- und Magenthemen der Grünen; Ruhe an der Protestfront schadet nicht; der Landesetat muss irgendwie anders saniert werden.

Heckenschützen in Berlin

Anders verhält es sich in den Augen der Partei mit Kretschmanns Agieren bei Stuttgart 21 – jenem Thema, das die Grünen in und um Stuttgart herum umtreibt wie kein anderes. Dass Kretschmann per Interview ein „Es gibt kein Zurück mehr“ dekretierte, stieß vielen in der Partei ebenso auf wie die Unlust des Regierungschefs, Stuttgart 21 zum Wahlkampfthema für die Bundestagswahl zu machen.

Anonyme Attacken aus Berlin, die Kretschmann des Verrats an der Parteilinie bezichtigten, dürften freilich eher kontraproduktiv sein. Schon als Oppositionspolitiker im Landtag hatte Kretschmann die Allmachtsfantasien der Berliner Großstrategen mit Befremden, ja mit Zorn zur Kenntnis genommen und eigensinnig auf sein Dasein als in der baden-württembergischen Provinz wohl beheimateter „Waldschrat“ bestanden.

Deutlich schwerer wiegt hingegen die Kritik aus dem eigenen Landesverband und ganz besonders aus der Fraktion, die doch die Machtbasis eines jeden Regierungschefs darstellt. Zu CDU-Zeiten gab es noch so etwas wie eine Identität von Partei und, nun ja, Staat. Der Ministerpräsident waltete und amtete zugleich auch als CDU-Landeschef. Dieser befand als bestens, was jener beschloss. Und die Partei winkte in der Regel dankbar alles durch. Nur die Fraktion bedurfte mitunter einer Seelenmassage, aber das ist auch schon länger her.

Unter Parteipatriarchen

Grünen liegen solche Formen der innerparteilichen Willensbildung weniger, auch wenn sie – siehe Joschka Fischer – die wissenschaftlich noch nicht systematisch erschlossene Herrschaftsfigur des Parteipatriarchen durchaus kennen. Das Krisentreffen vom Dienstag zeigt indessen, dass Kretschmann erkannt hat, dass präsidiale Höhenflüge ohne Bodenpersonal böse enden. Regierungshandeln will auch den eigenen Leuten erklärt sein. Umgekehrt benötigt ein Regierungschef einen gewissen Spielraum – und die Solidarität der eigenen Leute über deren jeweiligen Einzelinteressen hinaus. Dieses Spannungsverhältnis auszutarieren gehört zur Rollenbeschreibung der beiden Landesvorsitzenden. Eine Aufgabe, an der Chris Kühn und Thekla Walker offenkundig noch wachsen können.