Versager, Heuchler, Waschlappen: Nach der 1:3-Niederlage des VfB gegen Mainz veranstalteten die Fans ein Standgericht am Stadionzaun und beschimpften Spieler und Vereinsführung. Nur einer bekam einen Freispruch. Eine Reportage aus einem Hexenkessel namens Stadion.

Stuttgart - Drüben am Cannstatter Wasen versinkt die Sonne sanft hinterm Riesenrad, hoch droben zwitschern die Vögel in den alten Bäumen entlang der Mercedesstraße. Allmählich neigt er sich seinem Ende entgegen, dieser prachtvolle, leuchtend helle Mai-Samstag, der für den VfB Stuttgart düsterer nicht sein könnte. 19.21 Uhr ist es, als vor dem Stadion das Standgericht beginnt.

 

Die Angeklagten stehen in Reih und Glied auf der einen Seite des Zaunes und tragen rote Trainingsanzüge. Direkt aus der Kabine sind sie gekommen, die Spieler des VfB, manche haben Tränen in den Augen. Jetzt blicken sie in von Wut und Alkohol gerötete, zum Teil hasserfüllte Gesichter auf der anderen Seite des Zaunes. Dort stehen die Fans, die nun Ankläger und gleichzeitig Richter sind – und ihre Urteile im Schnellverfahren fällen.

Die Fans beschimpfen die Spieler heftig – nur einer bekommt einen Freispruch

Daniel Didavi, VfB-Spieler seit dem Alter von zwölf Jahren, kommt als Erster dran: „Verpiss dich, du Heuchler, du bist der größte Verräter aller Zeiten.“ Der Verteidiger Daniel Schwaab ist der Nächste: „Deine Zeit ist vorbei, du Versager, du hast hier nichts mehr zu suchen.“ Dann ist Robin Dutt an der Reihe, der Manager: „Du bist ein Waschlappen, eine Lachnummer, hau ab, wenn du nur einen Funken Ehre im Leib hast.“ Ein Pauschalurteil ergeht über den Rest der Mannschaft, 19-Jährige sind darunter und Familienväter: „Ihr seid eine Schande für den Verein, ihr habt es nicht verdient, das VfB-Trikot zu tragen.“ Einen Freispruch bekommt nur Kevin Großkreutz: „Du darfst bleiben“, hört der Mann, der erst im Januar zum VfB gekommen ist und ganz am Rand steht. Seine kurze Hose gibt den Blick auf sein Tattoo auf der Wade frei: die Skyline von Dortmund.

Verstörend ist es, auf diese Weise wieder einmal zu erleben, dass der Fußball für viele Fans zum mit Abstand wichtigsten Inhalt ihres Leben geworden ist und dass sie daraus den Anspruch ableiten, nicht nur zahlende Kundschaft zu sein, sondern maßgebliche Bestimmer. Und irritierend ist es, dass man bei diesem unwürdigen Kotau plötzlich Mitgefühl mit Profifußballern empfindet, die in einem Jahr mehr verdienen als viele ihrer Fans im gesamten Berufsleben. Fast eine Stunde dauert dieses erschütternde Schauspiel am Stadionzaun, das ein weiteres Mal beweist, dass die Dinge beim VfB, aber auch im gesamten Fußball völlig aus den Fugen geraten sind.

Das Sicherheitspersonal lässt die enttäuschten Fans ungehindert auf das Spielfeld

Das wird in Stuttgart auch schon knapp drei Stunden vorher deutlich, als das Heimspiel gegen Mainz mit 1:3 verloren und der lange angekündigte Abstieg, der erste seit 41 Jahren, nahezu besiegelt ist. Ein Wunder ist nötig, um doch noch den Klassenverbleib zu schaffen: ein VfB-Sieg am nächsten Samstag in Wolfsburg und ein gleichzeitiger Erfolg von Eintracht Frankfurt bei Werder Bremen. Doch an dieses Wunder mag niemand mehr glauben, nicht die völlig verunsicherte Mannschaft und ihre ratlose Führung. Und schon gar nicht die vor Wut schäumenden Fans.

Unmittelbar nach dem Schlusspfiff entern sie zu Hunderten das Spielfeld, erst von der Cannstatter Kurve aus, dann auch von den anderen Tribünen – ungehindert vom Sicherheitspersonal. Die Verantwortlichen, das erfährt man später, haben dieses Szenario, eigentlich ein völliges No-Go in der Bundesliga, im Vorfeld des Spiels ins Kalkül gezogen und sich dafür entschieden, im Sinne einer Deeskalationsstrategie nicht dagegen vorzugehen. Ein Ventil sollten die enttäuschten Anhänger bekommen und ihrem Frust mit dieser totalen Grenzüberschreitung freien Lauf lassen dürfen. So weit hat es also kommen müssen mit dem Traditionsverein von 1893. Bilder wie diese hat es in Stuttgart noch nie gegeben.

Fans prügeln gegenseitig auf sich ein

Ein paar Vermummte sind darunter, hie und da prügeln und treten Fans gegenseitig auf sich ein – ansonsten aber bleibt die Lage den Umständen entsprechend ruhig. So gesehen geht der Plan auf. Es gibt keine Jagdszenen, wie man sie schon in Frankfurt erlebt hat oder in Köln. Stattdessen bauen sich die Fans vor dem Spielertunnel auf, sie halten Fäuste und Kinder in die Höhe und skandieren jene Parolen, die beim VfB seit Jahren zum Standardprogramm gehören: „Vorstand raus!“, „Wir haben die Schnauze voll!“, „Wir wollen euch kämpfen sehen!“.

Die Stuttgarter Spieler, kurz vorher von den Sicherheitsleuten in ihren gelben Polohemden aus der Menschenmenge heraus in die Kabine geleitet, kommen noch einmal zurück, um damit zur Beruhigung der aufgebrachten Volksseele beizutragen. Auge in Auge stehen sie nun vor ihren Fans, der Kapitän Christian Gentner steigt auf einen Stuhl, um sich Gehör zu verschaffen – vergeblich. Irgendwann geht die Mannschaft wieder, ehe später am Stadionzaun ein weiterer Akt der Erniedrigung folgt.

Von einem „bitteren Tag für Stuttgart“ spricht Vereinschef Bernd Wahler

Der Präsident Bernd Wahler steht zu diesem Zeitpunkt im Kabinengang und ringt um Fassung. Er ist die ganze Zeit über in den Katakomben geblieben, was vermutlich nicht die schlechteste Idee war. Gemeinsam mit dem Sportvorstand Dutt ist er es, der den bevorstehenden Abstieg verantworten muss. Ein Häufchen Elend ist aus jenem Mann geworden, der nach seiner Wahl im Juli 2013 mit einem Freudensprung die VfB-Bühne betreten und den Fans eine rosige Zukunft in Aussicht gestellt hat. Nun gilt er beim Anhang als Versager, als Vollpfeife, als Totengräber. Das Fußballgeschäft kann grausam sein, auch wenn man nicht selbst gegen den Ball tritt.

Um eine feste Stimme bemüht sich Wahler, als er in einen Strauß von Mikrofonen spricht. Von einem „bitteren Tag für den VfB Stuttgart“ berichtet der Vereinschef, von „einer bedrohlichen Situation“ auf dem Spielfeld, die er „bewegend“ fand. Doch hat Wahler auch eine Erfolgsmeldung zu verkünden: „Unser Sicherheitskonzept hat gegriffen.“ Dieses Thema wird ihn auch in den nächsten Tagen beschäftigen, vermutlich noch mehr als das letzte Spiel in Wolfsburg. Man sei bereits dabei, „intensiv zu besprechen, wie man die Sicherheit der Spieler gewährleisten kann“. Traurig aber wahr: Es gehört im Angesicht des Abstiegs zu den größten Sorgen des VfB, dass die eigenen Fans noch weiter aus der Rolle fallen, als sie es bereits getan haben.

Das Wetter im krassen Widerspruch zur allgemeinen Stimmungslage

Immerhin können irgendwann die VfB-Spieler an diesem schwarzen Samstag ohne weitere Zwischenfälle das Stadion verlassen und den Nachhauseweg antreten. Und störungsfrei erreichen sie am nächsten Morgen das Vereinsgelände, zum Auslaufen nach dem Mainz-Spiel, zur ersten Einstimmung auf den letzten Auftritt in Wolfsburg. Eine Woche müssen sie noch überstehen, dann hat das Trauerspiel ein Ende.

Wieder ist es ein prächtiger, ein leuchtend heller Tag an der Mercedesstraße, der in krassem Widerspruch zur allgemeinen Stimmungslage steht. Diesmal sind die wütenden Fans zu Hause geblieben, neben den vielen Krisenreportern haben sich nur ein paar Sonntagsausflügler auf den Trainingsplatz verirrt. Robin Dutt ist auch da, der Manager sieht mitgenommen aus – kein Wunder, neben Bernd Wahler ist er das zweite Gesicht des Absturzes.

An ein Wunder am letzten Spieltag glaubt auch Dutt nicht mehr und appelliert an „die Ehre und den Stolz“ der Spieler, die diese Saison „mit Anstand“ zu Ende bringen sollen. Auch über die Geschehnisse vom Vortag spricht er, über die Reaktionen der Fans – „so etwas geht an keinem von uns spurlos vorbei“. Doch müsse man Verständnis haben, auch wenn „mancher über das Ziel hinausgeschossen ist“. Es sei ja keiner zu Schaden gekommen, sagt Dutt. Man werde daher „nicht ansatzweise auf irgendeinen mit dem Finger zeigen“.

Es ist der letzte Akt der Demütigung. Der VfB steigt in die zweite Liga ab, die eigenen Fans gehen auf die Barrikaden – und keiner darf sich beschweren.

VfB Stuttgart - Bundesliga

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