Die Bilanz stimmt, sein Image nicht. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer polarisiert wie keiner vor ihm. Am Sonntag will er wiedergewählt werden.

Tübingen - Es ist ein freundlicher, fast liebevoller Ton, voller Verständnis und auch ein bisschen Stolz. So wie ein Vater mit seinem Sohn reden würde, um ihn vor Ungemach zu bewahren. „Ein OB kann kein Rebell sein“, warnt Winfried Kretschmann in seiner bedächtigen Art, die einem jede Menge Zeit lässt, um das Gesagte zu verstehen. „Das geht gar nicht“, schiebt Baden-Württembergs Ministerpräsident hinterher und sucht den Blick seines Adressaten: Boris Palmer, 42 Jahre alt, grüner Oberbürgermeister von Tübingen und immer wieder bundesweit in den Schlagzeilen. Wegen Streitigkeiten um eine Apfelschorle in einem Gasthof auf der Schwäbischen Alb oder seinem E-Bike, für das er den Dienstwagen abgeschafft hat.

 

In Tübingen ist Rathaus-Wahlkampf, am Sonntag werden die Kreuze gesetzt, und der Ministerpräsident ist vorab gekommen, um seinen Favoriten und Parteifreund zu bewerben. So sitzen die beiden gemütlich im Ledersessel auf der Bühne des Veranstaltungszentrums Sudhaus und schütten dem wohlgesonnenen Publikum ihr Herz aus. Trotz der 300 Zuhörer ist es eine traute Runde, mit Wohnzimmercharakter. Boris Palmer gesteht, wie sehr es ihn gekränkt habe, dass ihn die Grünen einst nicht in den Bundesparteirat gewählt hätten und wie es ihn beschäftige, dass er atmosphärisch oft missverstanden werde. „Das ist ein Spagat, ich will halt nicht nur glatt sein“, sagt er und sucht häufig mit deutlichen Worten die Konfrontation.

Seine Erfolge sprechen für den Rathauschef. Ein ausgeglichener Haushalt, 4500 neue Arbeitsplätze, geschaffen während seiner ersten Amtszeit, eine Spitzenbetreuungsquote für Kleinkinder in Baden-Württemberg. Und das mit dem Klimaschutz hat auch geklappt. Trotz um 15 Prozent gewachsener Wirtschaftskraft sank der Pro-Kopf-Verbrauch an CO2 um 18 Prozent. Alles richtig gemacht, könnte man denken und damit rechnen, dass Platzhirsch Palmer seine wichtigste Herausforderin Beatrice Soltys, die Fellbacher Baubürgermeisterin, locker aussticht. Zumal er vor acht Jahren sogar als Neustarter mit 50,4 Prozent die absolute Mehrheit holte.

Palmers Oberlehrerhaftigkeit nervt die Bürger

Es sind die Ecken und Kanten, die Wutausbrüche und Einmischereien, die ihm zum Verhängnis werden könnten. Seine Oberlehrerhaftigkeit nervt die Leserbriefschreiber, an seinem Besserwisser-Zeigefinger, den er am liebsten in den sozialen Netzwerken reckt, entzünden sich wüste Debatten und Beschimpfungen über den „Oberboris“, „der von Tübingen aus das Weltklima retten will“. Die Facebook-Gruppe „Tübingen gegen Boris Palmer“ drischt auf ihn ein, und Palmer selbst zeigt sich im Sudhaus-Saal im Gespräch mit Kretschmann erstaunt darüber, warum ihn „eine erhebliche Anzahl von Menschen sehr negativ betrachtet“.

Dabei fing alles so vielversprechend an. Palmer, ein blitzgescheiter Denker, der sein Abi mit 1,0 gemacht hat und später Mathe und Geschichte studierte, war die große Hoffnung der Grünen. Als Umwelt- und Verkehrsexperte im Landtag, als einer der drei stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Landespartei, omnipräsent und immer schlagfertig, nicht nur im Politikgetriebe, sondern auch in Talkshows und unzähligen Interviews. Der wird Minister, sagten viele, doch es kam es anders. Boris Palmer eroberte Tübingen. Ein Ökobiotop mit kritischen Köpfen und vielen Dauernörglern, die mindestens so moralinsauer sein können wie Palmer selbst.

Tierschutzaktivist Daniel Schneider ist sauer auf den OB

Einer, den der OB verloren hat, ist Daniel Schneider. „Ich wäre eigentlich ein klassischer Grünen-Wähler“, sagt der Philosophiestudent über sich selbst. Politisch links, erst Vegetarier, dann Veganer. Über eine Freundin wurde er zum aktiven Tierschützer, den so schnell nichts stoppen kann. Auch kein Dauerregen. Drinnen beim Palmer-Kretschmann-Plausch ist es warm und trocken, draußen steht Daniel Schneider, von den Rastazöpfen bis zu den Turnschuhen ziemlich durchnässt, und hält zusammen mit einem Dutzend Mitstreiter Styroportafeln in die Luft. „Tierschützer gleich Gesinnungsterroristen“ steht da. So habe Palmer sie neulich beschimpft.

Daniel Schneider (links) protestiert vor dem Tübinger Sudhaus gegen Tierversuche. Foto: Soko Tierschutz

Mit dabei ist auch der Affenpfleger, der die Tierversuchsdebatte in Tübingen ausgelöst hat. Er hat sich vom Max-Planck-Institut anstellen lassen, filmte blutige Szenen und andere Scheußlichkeiten, von denen man hofft, dass sie Tieren nicht angetan werden. Dann gab er das Material seines Vereins ans Fernsehen weiter.

Mit seiner undiplomatischen Art macht sich Palmer Feinde

Die Versuche seien „ein Übel, aber vertretbar“ bezog auch Oberbürgermeister Palmer klar Position und manövrierte sich durch einen lautstarken Auftritt während der letzten Großdemo mitten in die Schusslinie des Protests. Die neuesten Aufkleber in Tübingens zeigen ihn und die Botschaft: „OB Palmer hasst Tiere!“

Daniel Schneider kann nicht fassen, wie undiplomatisch Palmer in Sachen Tierschutz agiert. „Das ist total übertrieben und kostet ihn jede Menge Wählerstimmen“, ist sich der 25-Jährige sicher. Palmer versuche selbst dann noch mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, wenn die das explizit nicht wollten. „Das lebt er als freie Demokratie“, urteilt Schneider, „aber der ist doch nur aufmerksamkeitsgeil“.

Zum Debakel habe sich die Facebook-Dauerpräsenz des OB entwickelt, kritisiert Schneider. Erst imponierte es ihm, dass ein Politiker so nahbar ist und sofort auf Bürgerkommentare reagiert. Das hat sich geändert. „Der Palmer postet zu schnell, zu viel und zu persönlich.“ Auch hartnäckig Bilder von Falschparkern, die er zwangsoutet. Schneider sei auf Facebook mittlerweile von Palmer gesperrt worden, erzählt er.

Gastronom Ulf Siebert hat sich vom OB überzeugen lassen

Palmer polarisiert in Tübingen wie kein OB vor ihm. Die Enttäuschten wenden sich von ihm ab und starten in der Universitätsstadt mit ihren 85 000 Einwohnern Kampagnen gegen ihn. Sie überkleben Plakate, rufen auf Twitter auf, ihn abzuwählen. Andere, die mit Grünen früher lieber nichts zu tun gehabt hätten, zieht er an. Ulf Siebert, Gastronom und Stadtrat der Tübinger Liste, hat sich überzeugen lassen. Alle paar Minuten kreischen die Möwen, rauscht an diesem sonnigen Vormittag das Meer – sein Handy lässt ihn nicht in Ruhe, trotzdem nimmt er sich Zeit, um für den Politiker zu trommeln, den er für den Falschen hielt. „Ich dachte, der ist nach zwei Jahren wieder weg, in Berlin oder sonstwo“, erinnert sich Siebert und war bei der letzten Wahl entsetzt, dass die SPD-Amtsinhaberin Brigitte Russ-Scherer ihren Stuhl räumen musste. „Die war nicht beliebt, aber fachlich kompetent.“ Anfangs hätte er Palmer nicht zugetraut, dass er auf die Interessen des Einzelhandels und der Wirtschaft achtet.

Der Gastronom Ulf Siebert hielt Palmer erst für den Falschen für Tübingen. Jetzt unterstützt er ihn im Wahlkampf. Foto: Heinz Heiss

Der Gastronom und der Oberbürgermeister sind sich nicht nur inhaltlich näher gekommen, sie sind Nachbarn in einem Hochhaus am Rande der Innenstadt. Weil das historische Rathaus umgebaut wird, verlegte Palmer sein Büro in den fünften Stock des Blauen Turms, im Untergeschoss feiern die Studenten in Sieberts Disco. Letzten Samstag, nachts um halb drei, kam auch der Oberbürgermeister auf die Tanzfläche. „Er verteilte Kondome mit seinem Wahlkampfmotto“, erzählt Siebert und führt an Getränkekisten vorbei durch die Räumlichkeiten seines Clubs, „das fand ich super, als er auf einmal dastand.“

Mit Palmer zog ein neuer Führungsstil ins Rathaus ein, sagt Siebert. „Er ließ zu, dass die Bürgerschaft gehört wird“, lobt er und hat selbst einen kurzen Draht zu Palmer – über den Internetdienst WhatsApp debattieren die beiden Stadtpolitisches. „Bei ihm kann man sicher sein, dass er jede Anfrage binnen zwölf Stunden beantwortet.“

Autos sind willkommen, Fahrräder aber noch viel mehr

Auf dem kurzen Fußweg vom Blauen Turm bis in die Innenstadt erklärt Siebert das Prinzip Palmer. „Er ist ein pragmatischer Realpolitiker, dem vieles gelungen ist, aber mitunter nimmt er sich zu wichtig.“ Tübingens ewiger Schandfleck, die Bauruine gegenüber vom Blauen Turm sei endlich verschwunden. Schon bald werde dort ein Ibis-Hotel gebaut, eine moderate Preislage, die in Tübingen gefehlt habe.

Siebert flaniert weiter durch die gerade sanierte Friedrichstraße, ein Entrée in die Stadt, das zeigt: Autos sind zwar willkommen, aber Fußgänger und Fahrradfahrer noch viel mehr. „Klar hätten wir Gastronomen und die Händler gerne mehr Parkplätze“, wünscht sich Sie-bert, „wir kämpfen um jeden einzelnen“. Selbst er hat Parknöte. Sein kleiner Citroën darf nur kurz für eine Lieferung vor seinem Café an der Neckarfront stehen, dann muss er wieder raus aus der Fußgängerzone. Richtig gewurmt hat ihn, dass er für sein Café keinen Balkon bewilligt bekam. „Da war nichts zu machen.“

Bei den Verbindungen hat Palmer gepunktet

Den Kompromiss gesucht und gefunden hat Palmer mit einer Klientel in der Stadt, die zumindest größtenteils zu den Grünen so viel Distanz hält wie ein Vampir zum Tageslicht – den Verbindungen. Droben auf dem noblen Österberg, im Haus der Landsmannschaft Schottland, wird der Oberbürgermeister erstaunlich viel gelobt. In der holzgetäfelten Kneipe, wo die Alten Herren vierreihig gerahmt an den Wänden hängen, sitzt Werner Strecke, 63, Vorsitzender des Arbeitskreises Tübinger Verbindungen, und beschreibt Palmer als einen Mann, der Wort hält. Zumindest, was den Bürgerfrühschoppen vor der Alten Burse angeht.

Im Jahr 2009 ist in Tübingen passiert, was kaum einer für möglich gehalten hätte. Das Ritual des Maisingens in der Walpurgisnacht fiel aus. Das alljährliche Scharmützel zwischen den strammen Burschenschaftlern und den Gegendemonstranten wurde abgesagt. Die Hundertschaften an Bereitschaftspolizisten mussten gar nicht erst anrücken. Ein Frieden, der bis heute hält. Um die Gemüter zu beruhigen, hatte Palmer angeboten, ein Grußwort bei dem Frühschoppen zu sprechen. „Er hat nur einmal ausgesetzt, weil an dem Tag seine Tochter geboren wurde“, sagt Strecke, der sein Geld als Versicherungsmakler verdient. Ein Kuschelkurs sei das noch nicht, aber die Eiszeit zwischen den Verbindungen und der Stadt habe ein Ende gefunden.

Einige liebäugeln mit dem Spaßkandidaten von „Die Partei“

Die Krawalle und die Geschichte der Beendigung derselben kennt Max Brunner nur aus Erzählungen. Der 23-jährige Politikstudent mit dem blau-gold-roten Band der Schotten über dem Pulli interessiert sich mehr für die aktuelle Kommunalpolitik. Auch er preist Palmer als „wirtschaftlich ziemlich erfolgreich“. Die Fakten sprächen für ihn, gibt Brunner zu, aber wählen will er ihn nicht. Zu arrogant, zu rechthaberisch sei er und bevorzugt Markus Vogt alias Häns Dämpf, den Kandidaten der Satiretruppe „Die Partei“. Ein Komiker, der Gummibärenbäume pflanzen will und die Spaßbremse Palmer um die Stimmen bringen könnte, die er für einen glatten Durchmarsch braucht. Denn wenn er nicht auf Anhieb gewählt werde, dann wär’s das, hat der OB angekündigt, – so eitel ist er halt.