Seit Jahren ist die Grundsanierung des Stuttgarter Opernhauses überfällig, der Spielbetrieb leidet zusehends. Nun liegt ein neues Gutachten vor mit weitreichenden Vorschlägen. Die Frage lautet: Was ist die Kunst dem Land und der Stadt wert?

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Der Laden läuft. So könnte man salopp die Lage am Stuttgarter Staatstheater umschreiben. Nehmen wir als Beispiel die gerade aktuelle siebte Kalenderwoche des Jahres 2014. An den sieben Tagen vom 10. bis zum 16. Februar bieten Oper, Schauspiel und Ballett sage und schreibe 32 Veranstaltungen, also pro Tag mindestens vier, wenn nicht gar fünf. Ein Vollprogramm. Es gibt vormittags das moderne Musiktheater „Peter Pan“, es gibt nachmittags „Ronja Räubertochter“, es gibt abends Strauss, Verdi und Tschaikowsky, Schiller, Tschechow und Jonigk, es gibt „Krabat“ als Ballett, ein Konzert der Popgruppe Erdmöbel, ein „Blind Date“ im Club Erdgeschoss, eine Matinee der Cranko-Schüler und, und, und.

 

Derweil stimmen an anderer Stelle die Musiker gerade ihre Instrumente, proben die Schauspieler neue Stücke, trainieren die Tänzer ihre Muskeln und Sehnen, wird in den Werkstätten geplant, bemalt, geschneidert und ausgebessert. Wenn abends um elf der letzte Zuschauer gegangen ist, beginnt für die Bühnenarbeiter das Umräumen der Kulissen für die erste Probe am kommenden Morgen. Es gibt nur wenige Stunden im Alltag des Theaters, in denen einfach gar nichts geschieht. 1351 Mitarbeiter sind hier beschäftigt, das ist ein ordentlicher mittelständischer Betrieb. Sein kostbares Produkt heißt Kultur. Als Zuschauer ist man ab 5 Euro pro Ticket dabei.

Da ist womöglich mancher versucht zu sagen: Der Laden läuft ja wie geschmiert! Aber das wäre ein Trugschluss. Das Stuttgarter Opernhaus ist ein Sanierungsfall. Bau, Ausstattung, Räumlichkeiten, Technik, Sicherheit, das Vorderhaus fürs Publikum, sanitäre Anlagen, Maschinerie – der Zustand all dieser Dinge ist vielfach mangelhaft, zum Teil haarsträubend mangelhaft, zum Teil arbeitsrechtlich und sicherheitstechnisch stark grenzwertig. All das ist bekannt, vielfach dokumentiert und wird politisch diskutiert seit dem letzten Jahrtausend, nämlich seit 1999. Dass so wenig von der Malaise nach außen dringt, dass vor allem die allermeisten Zuschauer gar nicht ahnen, was sich hinter dem perfekten Schein einer abendlichen Vorstellung in der Tiefe des Gebäudes verbirgt, das gehört zum Wesen des Theaters. Und es ist vielleicht sogar das größte Kunststück, das die 1351 Mitarbeiter dieses Betriebs seit Jahr und Tag zuwege bringen.

Politisch bewilligt werden 18 Millionen Euro

Jeder Hausbesitzer weiß, dass nötige Renovierungen, wenn man sie immer wieder aufschiebt, dennoch nicht billiger werden. Vor nunmehr sechs Jahren einigten sich das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart auf einen jeweils zur Hälfte getragenen Sanierungsetat von 55 Millionen Euro. Im Sommer 2010 begann als erster Schritt die Sanierung des Schauspielhauses – und wir wollen uns an dieser Stelle ersparen, die lange Liste der Baupleiten in dieser Zeit nochmals aufzuführen. Aus einem Baujahr wurden bekanntlich drei, die Bauverwaltung im Finanzministerium erwies sich als hochgradig überfordert. Für die Arbeiten am sanierungstechnisch weitaus komplexeren Opernhaus hieß es darum erst mal: Planungsstopp.

Am 16. April vergangenen Jahres hat der Verwaltungsrat, also das politisch besetzte Aufsichtsgremium der Staatstheater, ein Gutachten in Auftrag gegeben, um den inzwischen schon wieder gewachsenen Schadensfall Opernhaus neu und gründlich zu untersuchen. Der Auftrag ging auf Vorschlag des Geschäftsführenden Intendanten Marc-Oliver Hendriks an anerkannte Experten: Das Unternehmen Kunkel Consulting in Bürstadt in der Nähe Darmstadts hat zuletzt die Generalsanierung des Bolschoitheaters in Moskau und den Bau des neuen Marinski-Theaters in St. Petersburg ausgeführt. Weitere Beratung holte man sich beim gerade im Kulturbau stark engagierten Architektenbüro Chipperfield.

Zumindest diese Arbeit ist nun abgeschlossen und im kleineren Kreis bekannt. „Das Gutachten über den Sanierungs- und Flächenbedarf am Stuttgarter Opernhaus soll am 24. März den Mitgliedern des Verwaltungsrates vorgestellt werden“, teilt der Intendant Hendriks nach StZ-Anfrage mit. Und fügt hinzu: „Danach werden aller Voraussicht nach ausführliche Beratungen in den politischen Gremien von Land und Stadt notwendig sein.“ Wohl wahr. Denn nach Informationen der Stuttgarter Zeitung schlägt dieses Gutachten nichts weniger vor, als aus dem Sanierungsfall Staatsoper ein umfangreiches Bauprojekt in der Landeshauptstadt zu machen. Und das würde eine Entscheidung sein, die vermutlich weder der Landesregierung noch dem Oberbürgermeister, weder dem Landtag noch dem Gemeinderat leicht von der Hand ginge. Jene 18 Millionen Euro, die laut Auskunft des Kunststaatssekretärs Jürgen Walter (Grüne) derzeit für die Aufrüstung des Opernhauses politisch bewilligt sind, dürften vermutlich noch nicht einmal ein Zehntel jener Investitionssumme sein, die nun zur Debatte steht.

Planer wollen auch Erweiterungsbauten

„Sanierungs- und Flächenbedarf“: das ist in diesem Fall der Schlüssel zum Verständnis. Kunkel Consulting und Chipperfield haben keineswegs nur aufgelistet, welche technischen Anlagen zu erneuern, wo Leitungen neu zu verlegen sind und welche Arbeitsräume künftig Tageslicht benötigen. Sie haben sich damit befasst, welche zusätzlichen Flächen im Opernhaus nötig sind, um bei einem derart dichten und vom Publikum nachgefragten Spielbetrieb wie dem in Stuttgart möglichst effektive Arbeitsabläufe zu ermöglichen, die den Besuchern zudem einen attraktiven Theaterbesuch ermöglichen. Ihr Ergebnis laut StZ-Informationen: selbst in einem grundsanierten Zustand ermöglicht die alte Hofoper im Grundriss von 1913 solche Abläufe und Angebote nicht. Den Planern steht darum der Sinn nach Erweiterungsbauten.

Was die Attraktivität des Hauses im jetzigen Zustand für das Publikum angeht, liegen die vermutlich aufgelisteten Mängel auf der Hand. Die Ausstattung des Opernhauses beispielsweise mit sanitären Anlagen ist völlig unangemessen; das ist in jeder Vorstellungspause leider mitzuerleben. Auch die technisch-organisatorischen Möglichkeiten der Gastronomie stehen in bizarrem Missverhältnis zur inszenierten Exklusivität des dort bereitgehaltenen Angebotes. Darüber hinaus wünscht sich die Intendanz seit Langem zentrale Flächen für derzeit in die Alte Musikhochschule in der Urbanstraße ausgelagerte Abteilungen im Bereich Werkstätten und Verwaltung.

Wenn man nun überlegt, in welche Richtungen das Opernhaus zu erweitern wäre, fallen zwei Möglichkeiten ins Auge: zwischen Opern- und Schauspielhaus stünde hinter der Pforte ein derzeit freier Innenhof zur Verfügung, während just zur anderen Seite eine attraktive Fläche zwischen Theater und Landtag als Parkplatz und Limousinen-Auffahrt mehr oder weniger brachliegt. Zieht man nun noch zum Vergleich die Konzepte zweier anderer aktueller Theatersanierungen heran, nämlich jene der Oper in Köln und der Staatsoper in Berlin, dann wird die mögliche Zielrichtung des Stuttgarter Gutachtens schnell deutlich: moderne Ergänzungen zum Littmann-Bau entweder zu einer oder gar zu beiden Seiten, die neben mehr Platz für Theatertechnik, Verwaltung und Vorderhaus vor allem Raum für ein modernes Besucherzentrum bietet, für Service und Gastronomie. Moderne Theater verstehen sich inzwischen überall in der Welt nicht nur als Bildungs-, sondern auch als Begegnungsstätte für das Publikum. Daran soll sich auch das Stuttgarter Staatstheater künftig messen können.

Der Wunsch: im Sommer 2018 mit der Sanierung beginnen

Der Hinweis auf Köln und Berlin zeigt allerdings auch, in welchem Kostenrahmen sich solche Pläne bewegen. Der Intendant Hendriks hat schon vor geraumer Zeit im StZ-Interview darauf hingewiesen, dass man bei einer „Sanierung in dieser Dimension mit einer Summe im zweistelligen Millionenbereich“ wohl nicht auskäme. Köln und Berlin hat er selbst stets als Bezugsgrößen angegeben – Köln ist derzeit mit 253 Millionen Euro, die Staatsoper Berlin aktuell mit 297 Millionen Euro veranschlagt. Mit Planungsvorlauf kommt man so locker auf 300 Millionen.

Man ahnt, welch ein Stöhnen derartige Summen bei jedem politisch Verantwortlichen hervorrufen müssen, vor allem in einer Stadt, in der es Usus ist, dass sich Kommune und Land alle Kosten von Betrieb und Unterhalt des Staatstheaters teilen. Das monatelange Gezerre um den Bau der 52 Millionen Euro teuren John-Cranko-Ballettschule an der Urbanstraße ist noch in frischer Erinnerung. Letztlich war es erst eine 10 Millionen Euro starke Stiftung des Automobilbauers Porsche, die im Herbst die Entscheidung brachte. Der ungewöhnlich hohe Beitrag des Porsche-Vorstandes zeigt jedenfalls, dass die Bedeutung eines Kulturangebotes von hohem Rang und die nötigen Investitionen hierfür einem ortsansässigen Wirtschaftsunternehmen offenbar sehr deutlich war.

„Wünschenswert wäre, im Sommer 2018 mit der Generalsanierung des Opernhauses zu beginnen“, sagte der Intendant Marc-Oliver Hendriks gestern der StZ. „Ich hoffe sehr, die Bühnentechnik hält auch bis dahin durch.“ Was immer jedenfalls in vier Jahren beginnt – wenn es etwas nach Vorstellung der Gutachter sein sollte, dann kann es nur als ein selbstbewusst betriebenes Gemeinschaftsprojekt von Stadt und Land gelingen. Können sich das Staatsministerium und das Rathaus, können sich Ministerpräsident und Oberbürgermeister so etwas vorstellen? Das Gutachten von Kunkel und Chipperfield wird in jedem Fall Gesprächsstoff liefern.