Die Grünen gehen mit zwei Spitzenkandidaten in die Wahl: Katrin Göring-Eckardt setzt sich zwar im Stil von Jürgen Trittin ab, aber inhaltlich gibt er aber den Takt im Bundestagswahlkampf vor.

Berlin - Die Gegend, keine Frage, hat schon bessere Zeiten erlebt. Die Dortmunder Nordstadt ist das größte Gründerzeitviertel im Ruhrgebiet. Doch dem einst schönen Stadtteil haben der Niedergang der Stahlindustrie und die Arbeitslosigkeit sichtlich zugesetzt. Aus den tristen Straßenzügen mit den vielen Ein-Euro-Läden sticht nur das moderne Arbeitsamt heraus. Und genau dort versammeln sich an diesem sonnigen Sommermorgen einige Dortmunder Grüne zu einer Fahrradtour. Katrin Göring-Eckardt, die Spitzenkandidatin der Grünen, hat sich zu einem Besuch angekündigt, genauer: zu einer Radtour zu verschiedenen sozialen Einrichtungen in der Nordstadt.

 

„Die soziale Frage“ lautet der Name der Tour. Durch ein Versehen fällt der Presse auch der Tourplan in die Hände. Unter dem Stichwort „Ziel“ heißt es dort: „Produzieren guter Bilder, Austausch mit ‚echten Menschen‘, deutliches Besetzen von Themen.“ Nun wäre es unfair zu verschweigen, dass alle Politikerreisen, zumal in Wahlkampfzeiten, solche Ziele verfolgen. Und abseits des Berliner Regierungsviertels „echte Menschen“ zu treffen kann Politikern (wie Journalisten) kein bisschen schaden. Kaum hat Göring-Eckardt die erste Station erreicht, zeigt sich auch, dass sie keineswegs nur auf „gute Bilder“ aus ist.

Im Wichern-Haus der Dortmunder Diakonie schildern ihr Mitarbeiter von Caritas und Diakonie, was sie im Kontakt mit Zuwanderern aus Bulgarien und Rumänien erleben. Es sei schwer, sagen Uta Schütte und Frank Merkel, überhaupt in Kontakt mit den Menschen zu kommen, von denen die meisten kein Deutsch und viele nicht lesen und schreiben könnten. Schütte und Merkel erzählen, was sie tun, damit die Kinder die Schule besuchen, die Familien medizinisch betreut werden und nicht weiter in völlig überfüllten Wohnungen leben müssen. Nichts, gar nichts erinnert im Wichern-Haus an das, was sonst häufig Politikerbesuche ausmacht: Ankunft, Händeschütteln, Fototermin, kurzes Gespräch, Händeschütteln, Abfahrt. Vielmehr hört die Vizepräsidentin des Bundestages aufmerksam zu, sagt selbst wenig, beweist aber mit den wenigen Bemerkungen, die sie macht, dass sie bestens vorbereitet ist. Göring-Eckardt will wirklich wissen, wie die Lebenslage anderer ist und was Berlin tun kann, um zu helfen. Und genau so ist es auch bei ihrem zweiten Termin in der Nordstadt. Sie besucht die Mitarbeiter des „Pudelwohl Gesundheitsladens“, die sich um junge männliche Prostituierte kümmern. Noch vor einigen Jahren wäre es wohl undenkbar gewesen, dass sich jemand aus dem Präsidium des Bundestags für das Schicksal von Strichern interessiert. KGE, wie die Spitzenkandidatin in Grünen-Zirkeln genannt wird, macht es auf ihre ruhige, souveräne und zugewandte Art.

Im Wahlkampf ist auch Göring-Eckardt nach links gerückt

Nun hat eine solche Art in Wahlkämpfen gewisse Nachteile. Auf Kundgebungen und bei Talkshow-Auftritten kräftig-dröhnend über den politischen Gegner herzuziehen ist jedenfalls nicht ihr Ding (da fügt es sich für die Grünen gut, dass sie mit Jürgen Trittin einen zweiten Spitzenkandidaten haben, der dies mit Freuden kann und tut). Manche in ihrer Partei meinen, dass die 47 Jahre alte Thüringerin arg pastoral daherkomme („Sie geht nicht, sie schwebt“, spottet ein Mitglied der Bundestagsfraktion).

Allerdings hätte es KGE kaum von der jungen Studentin mit abgebrochenem Theologiestudium zur Bundestagsabgeordneten, parlamentarischen Geschäftsführerin, Fraktionschefin und Spitzenkandidatin gebracht, wenn sie immer nur verbindlich-freundlich wäre. In politischen Fragen kann sie durchaus kühl-berechnend sein. Das Berechnende schleicht sich zuweilen auch in die Kommunikation ein. Sie kann einen Gesprächspartner mitten im Satz stehen lassen, wenn sie im Raum jemanden entdeckt, der ihr wichtiger scheint.

Was die Spitzenkandidatur anbelangt, ging ihr Kalkül jedenfalls auf. Sie, die 2006 bei der Wahl zum Parteirat kläglich unterlag, setzte darauf, dass die Mehrheit der Grünen eine andere Spitzenbewerberin wollte (nicht so anstrengend wie Claudia Roth, nicht so verbissen wie Renate Künast). Also trat Göring-Eckardt unter viel Zuspruch führender Realos im Herbst 2012 bei der Urwahl des Grünen-Spitzenduos an – und gewann. Und so wie die Partei unter Führung Trittins klar nach links gerückt ist, ist es KGE auch. Wer in ihrer Partei den Ton angibt (auf Bundesebene ist es seit geraumer Zeit Trittin) und wie die Basis tickt, weiß sie eben genau. Also trägt sie die Linie mit, die maßgeblich Trittin für diesen Wahlkampf entwickelt hat: ein prononciert linkes Programm verbindet sich mit einer klaren Festlegung auf die SPD. Allerdings hatte Trittin fest damit gerechnet, dass die Sozialdemokraten Frank-Walter Steinmeier zum Kanzlerkandidaten küren würden – den SPD-Mann, den die Grünen als fairen Partner schätzen. Nun will jedoch Peer Steinbrück das Kanzleramt erobern – just der Steinbrück, der vor einigen Jahren die rot-grüne Landesregierung in Düsseldorf führte und einige Male am liebsten hätte platzen lassen.

Die Strategie der Grünen hat Schwächen

Je näher nun der 22. September rückt, ohne dass die Chance auf Rot-Grün steigt, umso mehr zeigt sich die Schwäche dieser Strategie. Zwar verheißen die Umfragen der Ökopartei ein gutes, vielleicht sogar das beste Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte. Doch was nützt das den Grünen, wenn es wieder nicht für Rot-Grün reichen sollte? Gewiss, noch vor Kurzem hatte kaum jemand einen Pfifferling darauf gewettet, dass Union und FDP die Wahl gewinnen könnten. Doch schon lange bevor der SPD-Kanzlerkandidat feststand, hat Trittin, der sich so viel auf seine Erfahrung und strategische Klugheit zugutehält, gegen den Widerstand vieler Realos die Festlegung auf Rot-Grün durchgesetzt.

In Baden-Württemberg hat die Partei mit Erfolg versucht, über ihre traditionellen Anhänger hinaus neue Wählerschichten zu gewinnen. Im Bund hingegen machen die Grünen mit ihrem linken Programm vielen Bürgern in der politischen Mitte kein Angebot. Tapfer beschwören sie ständig, dass ihre Steuerpläne nur wenige träfen. Bei vielen Bürgern ist aber (neben dem Vorschlag eines „Veggie-Day“) das Gegenteil angekommen.

Die Lücke in der Mitte kann auch KGE nicht schließen. Ihre Partei, so Göring-Eckardt, habe gesagt: „Du kannst für uns Stimmen holen, die wir sonst nicht bekommen.“ Und es stimmt schon: zum bissigen, oft arrogant wirkenden Trittin bildet die fromme Christin und Mutter zweier erwachsener Söhne einen Gegenpol. Nur liegt ihr Profil eben ganz in der Sozialpolitik. Wirtschafts- und Finanzthemen sind nicht ihr Ding. Vielleicht folgt ja am 22. September die Mehrheit der Bürger der Einschätzung von SPD und Grünen – der Einschätzung, dass der soziale Zusammenhalt und die Energiewende überragend wichtig sind und einen Regierungswechsel zu Rot-Grün nötig machen. Wie gesagt: das mag so kommen. Nur deutet gut zwei Wochen vor der Wahl nichts darauf hin.