Das aktuelle Wahlrecht begünstigt ein Aufblähen des Parlaments. Aktuelle Prognosen rechnen mit 700 und mehr Abgeordneten. Eine Reform ist schwierig – und jetzt fürs Erste gescheitert. Das kommt die Steuerzahler teuer zu stehen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Vier Wochen nach der letzten Bundestagswahl war allen, die davon profitiert hatten, klar, dass diese sich nicht in gleicher Weise wiederholen sollte. Parlamentspräsident Norbert Lammert sprach das in der konstituierenden Sitzung am 22. Oktober 2013 unumwunden an. Er rief die Abgeordneten dazu auf, „noch einmal in Ruhe und gründlich auf das novellierte Wahlrecht zu schauen“. Anlass für diesen Appell war der Umstand, dass 631 Volksvertreter im Plenum saßen, statt der 598, die es planmäßig sein sollten. Das hat mit dem kurz zuvor geänderten Wahlrecht zu tun. Zu den 598 regulären Mandaten kamen vier Überhangmandate. Die wiederum machten 29 Ausgleichsmandate erforderlich, damit der Stimmenproporz gewahrt blieb. Diesen komplizierten Mechanismus wollte Lammert dringend ändern – und mit ihm das Risiko aus der Welt schaffen, dass sich das Parlament noch stärker aufbläht. Das Protokoll verzeichnete damals Beifall aus allen Fraktionen. Doch aus der Reform wird nichts. Wo sind die Tücken des Wahlrechts? Das Wahlrecht für den Bundestag ist eine Dauerbaustelle. Es ist kompliziert, weil es die an sich widersprüchlichen Prinzipien der Verhältnis- und der Mehrheitswahl zu versöhnen versucht. Seine Achillesferse sind die Überhangmandate. Es gibt 299 Wahlkreise in Deutschland. Seit 1953 hat jeder Wähler zwei Stimmen. Mit der Erststimme wählt er den Kandidaten, der seinen Wahlkreis in Berlin vertreten soll. Die Zweitstimme ist für die jeweils bevorzugte Partei. So ziehen nach jeder Wahl 299 direkt gewählte Abgeordnete in den Bundestag ein und (rein theoretisch) ebenso viele, welche die Parteien entsprechend ihren Stimmenanteilen über ihre Landeslisten entsenden. Es kommt aber häufig vor, dass Parteien mehr Direktmandate erringen, als ihnen insgesamt an Parlamentssitzen zustehen würden. Diese bleiben ihnen als Überhangmandate erhalten. Das Verfahren, nach dem Stimmen in Mandate umgerechnet wurden, hatte früher noch andere Tücken. So konnte es vorkommen, dass mehr Stimmen in einem Wahlbezirk unterm Strich weniger Mandate bedeuteten. An diesem „negativen Stimmengewicht“ störte sich das Bundesverfassungsgericht und erklärte das Wahlrecht 2008 für nichtig. Eine 2011 beschlossene Novelle fand ebenfalls nicht die Gnade der Karlsruher Richter. So wurde das Wahlrecht im Oktober 2012 erneut korrigiert. Nun war das „negative Stimmengewicht“ beseitigt. Das Verfahren, nach dem die Mandate aus dem Wahlergebnis errechnet wurden, ist jetzt aber so kompliziert, dass im Bundestag nicht einmal eine Handvoll Leute sitzen, die das unfallfrei erklären können, wie Lammert einmal süffisant bemerkte.

 

Was ist aktuell das Problem? Nach der Wahl wird in drei Schritten errechnet, wie viele Mandate sich aus den Wählerstimmen ergeben: Nach einer Ausgangsverteilung gibt es eine Ober- und eine Unterverteilung. Und am Ende kommen dabei viel mehr Sitze heraus als eigentlich vorgesehen – wie jene 631 nach der Wahl 2013. Aber es könnten bei der nächsten Wahl auch leicht über 700 werden. Modellrechnungen der Bertelsmann-Stiftung mit realistischen Wahlergebnissen kamen sogar auf bis zu 800. Je schwächer die Volksparteien abschließen und je mehr Parteien ins Parlament einziehen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein XXL-Bundestag bei der Wahl herauskommt. Das aktuelle Wahlrecht sei ein „Bundestagsvergrößerungsgesetz“, kritisiert die Bertelsmann-Stiftung. Größer als der Bundestag sind nur das britische Unterhaus (650 Sitze) und der chinesische Volkskongress (2987). Ein aufgeblähter Bundestag würde den Steuerzahler teuer zu stehen kommen. Zudem bildet die Sitzverteilformel ungeachtet aller Ausgleichsmechanismen den Wählerwillen verzerrt ab: Die Union errang vor vier Jahren 41,5 Prozent der Stimmen, hat aber 49,3 Prozent der Sitze im Bundestag. Die SPD profitiert ähnlich (30,6 Prozent der Sitze bei 25,7 Prozent der Stimmen). Was spricht gegen eine Reform? In den großen Fraktionen gibt es die Sorge, dass Hinterbänkler ihren Parlamentssitz verlieren könnten, wenn die Zahl der Mandate limitiert würde. Nach der Wahl wird eine Reform noch schwieriger zu realisieren sein, weil dann mutmaßlich sechs statt vier Fraktionen im Parlament sitzen – mit auseinanderstrebenden Interessen. Welche Alternativen gibt es? Es gibt minimalinvasive und grundlegendere Reformansätze. Manche wollen nur Details korrigieren, andere die komplette Architektur des Wahlrechts. Manche Vorschläge zielen darauf ab, Überhangmandate zu vermeiden, andere wollen sie bestmöglich verrechnen. Bundestagspräsident Lammert hat etwa ein Limit von 630 Parlamentssitzen vorgeschlagen. Falls mehr Überhangmandate anfallen, müssten diese mit Listenmandaten aus anderen Bundesländern verrechnet werden. Das könnte aber zu einer erheblichen regionalen Umverteilung der Mandate führen: mehr Unionsabgeordnete aus dem Süden, weniger aus Norddeutschland. Andere Modelle setzen an den Wahlkreisen an. Man könnte ihre Gesamtzahl (bisher: 299) etwa um ein Drittel reduzieren. Dann wäre die Wahrscheinlichkeit gering, dass es mehr Direkt- als Listenmandate gibt. Die Bertelsmann-Stiftung schlägt eine Variante vor, nach der die Wahlkreise doppelt so groß wie bisher sein müssten, dafür aber jeweils zwei Kandidaten direkt gewählt würden. Alle Eingriffe in die Geografie der Wahlkreise wären jedoch aufwendig und würden auf Widerstand stoßen. Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Eckhard Jesse schlägt vor, die Zweitstimme abzuschaffen und eine Ersatzstimme einzuführen – für den Fall, dass die eigentlich favorisierte Partei an der Fünfprozenthürde scheitert (siehe Interview). Was kostet ein XXL-Bundestag? Im Bundeshaushalt 2017 sind knapp 800 Millionen Euro für den Parlamentsbetrieb reserviert. Falls der Bundestag auf 750 Abgeordnete anwachsen würde, wären 150 Millionen Euro mehr fällig, wenn der Haushaltsansatz einfach proportional angepasst würde. Bei den reinen Personalausgaben für Abgeordnete, ihre Mitarbeiter und die Belegschaft des Bundestags würde ein zusätzlicher Bedarf von 76 Millionen Euro anfallen.