ET 430 und kein Ende: Der Juni ist für S-Bahnfahrer ein Horrormonat gewesen. Stellvertretend für alle anderen Pendler erinnert sich der StZ-Redakteur Hans Jörg Wangner, wie das war mit den Schiebetritten und den völlig aus dem Takt geratenen Fahrplänen.

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Freunde des englischen Königshauses wissen seit 1992, was ein Annus horribilis ist, ein schreckliches Jahr. Aber ich und die gesamte S-Bahn-Kundschaft wissen seit Juni, was ein Mens horribilis ist, ein Horrormonat. Kaum ein Tag, an dem nicht irgendetwas schieflief, kaum ein Tag ohne Verspätungen, Ärger, Ausfälle. Und mittendrin ein technisches Meisterstückwerk. Gestatten: die neuen S-Bahnzüge der Baureihe ET 430.

 

Was sind sie uns im Vorfeld angepriesen worden, die tollen Züge, was hatten wir nicht für Erwartungen, dass jetzt alles besser würde. Schneller, schicker, komfortabler. Doch das böse Erwachen sollte nicht lange auf sich warten lassen.

Synonym für Unzuverlässigkeit

Hatten bis dahin nur eingefleischte Eisenbahnfreaks, sogenannte Pufferküsser, ein Augenmerk auf die verschiedenen Zugmodelle, so wurde das Kürzel ET 430 unter uns S-Bahn-Pendlern zum allgemein berüchtigten Synonym für Unzuverlässigkeit. Die absolute Schwachstelle des pro Stück sechs Millionen Euro teuren Bombardier-Produkts: die ausfahrbaren Schiebetritte. Ein ums andere Mal klemmte die Mechanik, Züge blieben liegen, die Verspätungen summierten sich ins Unzumutbare, Triebwagenführer fluchten beim Schichtwechsel laut über ihre neuen Arbeitsplätze.

Am 2. Juli katapultierte sich unser feuerrotes Unmobil nach wenigen Wochen Alltagsbetrieb selber aufs Abstellgleis: Kurz nach 16.30 Uhr blieb ein Zug mit mehreren geöffneten Türen an der Haltestelle Universität liegen, selbst mitfahrende Bombardier-Techniker – gewissermaßen die Elektriker auf der E-Lok – bekamen den 430er nicht mehr flott. Mit „dramatischen Folgen“, wie der S-Bahn-Chef einräumen musste. In Stuttgart, um Stuttgart und um Stuttgart herum herrschte Chaos, S- und Regionalzüge kamen völlig aus dem Takt, was selbst überzeugte Bahnfahrer nach vier Wochen ET 430 noch an Nerven hatten, ging angesichts der wieder einmal mangelhaften Informationspolitik vollends drauf.

Doch nur gut gemeint

Der ET 430 kam zurück ins Werk, mehr schlecht als recht wird das tägliche Programm mit den 423ern und den antiken, grundzuverlässigen 420ern seither aufrechterhalten. Für viele von uns war die Sache freilich eine Blamage mit Ansage: in Foren und Leserbriefen ließen sich Bahnkunden darüber aus, dass der inkriminierte Schiebetritt aus technischen Gründen gar nicht praxistauglich sein könne – das ewige Rein-Raus sei viel zu störanfällig, was dann auch zu beweisen war.

Dabei hatten sie es doch nur gut gemeint: der stolze Hersteller und – spätestens jetzt kommt der zweite Hauptakteur ins Spiel – der Verband Region Stuttgart, der ein möglichst barrierefreies Verkehrsmittel gefordert hatte. Koste es, was es wolle. So dürfte es im Kartenspiel zwischen Auftraggeber, Hersteller und praktischer Physik schwierig sein, den Schwarzen Peter ganz eindeutig irgendwo hinzuschieben. Die Physik jedenfalls ist unschuldig, die hält sich nur an ihre Gesetze.

Gegängelt, zugetextet, vollgedröhnt

Doch das große Drama ist symptomatisch für alle anderen Nickligkeiten im Zusammenhang mit dem ET 430, seit wenigen Wochen in seinem zweiten Frühling wieder live zu erleben: Die häufigen, lauten Durchsagen („S 1 … naaach … Herrenberg“). Das – handgestoppt – sechssekündige Piiiiiiiiiiiep! beim Öffnen der Türen. Das genauso lange Piep-piep-piep-piep-piep! beim Schließen (macht bei zehn Haltestellen zwei Minuten Lärmemission). Der stete Hinweis auf Selbstverständliches („Bitte achten Sie beim Aussteigen auf die Höhe der Bahnsteigkante“). Wir werden, der EU sei Dank, gegängelt, zugetextet, vollgedröhnt. In einem Tonfall, als würde eine Maschine Michael Saunders’ (SWR) und Peter Hahnes (ZDF) aufgekratzte Ranwanzerei nachmachen.

Kommt hinzu die alte Eisenbahnkrankheit: wie sag ich’s meinem Passagier möglichst technokratisch? „Der vor uns befindliche Streckenabschnitt . . .“ wird auch nach dem zehntausendsten Mal nicht erträglicher, so wenig wie die Endlosschleifen „Information. Zu. S 1. Nach. Kirchheim. Heute circa fünf Minuten später“. Oder „Gleis 101. Einfahrt. S 2. Nach Filderstadt. Über. Stuttgart. Waihingen.“ Ein Graus.

Dass es auch anders geht, beweisen uns Tag für Tag aufs Neue die Stuttgarter Straßenbahnen. Gewiss: aus strukturellen Gründen (keine anderen Züge auf ihren Gleisen) haben die es leichter, den Takt zu halten. Aber in ihrer dezenten Art machen sie das Informationsangebot erträglich: die Durchsagen vom Band sind nicht penetrant und sie sind vor allem in heutigem Deutsch. Sehr komfortabel auch: man drückt einmal kurz auf den Türöffner und bei der nächsten Haltestelle kann man ohne lästige Warterei aussteigen.

Irgendjemand hat zu mir mal gesagt, bei den Stadtbahnen habe man den Eindruck, dass die Entscheidungsträger ihr eigenes Verkehrsmittel auch nutzen. Bei der S-Bahn wär ich mir da mal nicht so sicher.

In der Serie „12 aus 13“ stellen wir Menschen vor, die mit den Geschehnissen des jeweiligen Monats im Jahr 2013 eng verbunden sind.