Mehr als 4000 Freizeitsportler treten beim Radmarathon an. Es zählt nur eines: Durchkommen.

Das Los muss entscheiden. Mehr als 13000 Teilnehmer wollen dabei sein, aber nur gut 4000 können mitfahren – bei der wohl schwersten Eintagesprüfung, die es für Freizeit-Rennradler in den Alpen, vielleicht sogar weltweit gibt, wie Organisator Ernst Lorenzi nicht ohne Stolz sagt. Die nackten Zahlen sprechen für sich: 238 Kilometer, 5500 Höhenmeter mit vier Pässen, der schwerste wartet nach 190 Kilometer Strecke – das 2509 Meter hohe Timmelsjoch. Ich war dabei.

 

Einen Tag vor dem berühmt-berüchtigten Ötztaler Radmarathon von Sölden nach Sölden sieht es übel aus: Es gießt, das Thermometer zeigt weniger als zehn Grad. Lorenzi lässt sich die Stimmung nicht vermiesen. "Morgen wird es kühl, aber die Sonne scheint." Am nächsten Tag, 4.30 Uhr, der Wecker klingelt. Es ist trocken und kalt – drei Grad zeigt das Thermometer. Und das Ende August.

Eineinhalb Stunden später stehen 4172 Unentwegte aus 27 Ländern an der Dorfstraße in Sölden am Start. "Hier beginnt dein Traum" verkündet ein Plakat über der Straße. Alte Hasen unter den Teilnehmern geben letzte Tipps: Am Anfang das Ötztal hinunter nicht zu schnell angehen, zurückhalten beim leichten Anstieg von Innsbruck zum Brenner. Wer zu viel Tempo macht, dem fehlen die Körner am Jaufenpass und am Timmelsjoch. "Alles Gute und vor allem kein Sturz", sagt einer neben mir. Ich will vor allem eins: durchkommen.

Dann fällt der Startschuss – exakt um 6.45 Uhr klicken mehr als 8000 Radschuhe in die Pedale, die Räder setzen sich in Bewegung. Die am Lenker befestigten Zeitnahme-Chips registrieren das Überfahren der Startlinie. Schnell zeigt der Tacho Tempo 40 oder mehr an. Gute 32 Kilometer rauschen die Radler das Ötztal hinab. Schon jetzt, so früh am Morgen, feuern uns viele Zuschauer an. In Ötz weisen Helfer den Weg zum ersten Anstieg nach Kühtai. Nicht mehr der kalte Fahrtwind ist das Problem, es ist der Anstieg. 18,5 Kilometer und 1200 Höhenmeter warten. Die Gespräche der Radler verstummen, die ersten Sonnenstrahlen lugen hinter den Bergen hervor. Nur das langsame Surren der Ketten ist zu hören. Mein Tritt ist rund und gleichmäßig, der Puls pendelt bei 145 Schlägen pro Minute. Mit etwa zwölf Prozent steigt die Straße an, dann folgt eine Strecke von einem Kilometer mit fast 18 Prozent. Zwei Kuhgatter, kleine Ausweichmanöver um verdutzte Rindviecher. Sie halten die Radler vermutlich für selbige, nach zweieinhalb Stunden ist der erste Pass bewältigt. Kühtai: 2020 Meter. Suppe, Brote, Tee, Obst, Riegel, isotonische Drinks – es fehlt an nichts an den Verpflegungsstationen. An sechs Punkten werden bis zum Abend 43000 Becher mit 5500 Liter Getränken und Suppe gereicht. 12000 Riegel, 11000 Bananen-Stücke, 20 Kisten Äpfel und Orangen, 16500 Kekse und 12000 Stück Kuchen werden von den Sportlern verdrückt, 780 Helfer sind im Einsatz.

Noch warten 180 Kilometer. Erst einmal die schnellste Abfahrt des Ötztalers hinunter ins Inntal. Bei 80 km/h drossele ich die Fahrt, bei anderen zeigt der Tacho Tempo 100 an. Ich habe im Ohr, was Lorenzi mir gesagt hat: "Den Ötztaler bezwingt man nicht auf den Abfahrten." Am Ende des Tages werden es nur drei Leichtverletzte sein: Einer stürzt beim Aufwärmen, der Zweite kollidiert mit einer Kuh, der Dritte landet in einem Zaun.

Im Inntal dann klebt das Vorderrad am Hinterrad des Vordermannes. Windschatten fahren spart Kraft. Innsbruck ist erreicht. Am Abzweig zum Brenner wartet der zweite Anstieg: Drei bis vier Prozent Steigung auf einer Distanz von 39 Kilometern. 777 Höhenmeter sind zu bewältigen. Nach 126 Kilometern und vier Stunden und 48 Minuten, wie mein Gerät am Lenker zeigt, ist der Brenner erreicht.

Die Straße nach Sterzing ist breit, der Asphalt makellos. Es läuft. "Noch fit?", fragt mich eine der 217 Frauen, die mitfahren. Noch. Dann der Abzweig zum Jaufenpass: 15,5 Kilometer lang und 1130 Höhenmeter. Die Beine sind erstaunlich locker. Langsam schraube ich mich nach oben, es bleibt Zeit, das Panorama der Berge zu bewundern. Nach der Passhöhe wieder rasant hinunter, ins Passeiertal. In St. Leonhard sind es angenehme 25 Grad. Es gab Rennen, da sah es anders aus. Besonders schlimm war es 2003. Dunkle Wolken brachten Regen, Schnee und Kälte. Trotzdem schwangen sich 2200 Radler in den Sattel. "Ich weiß nicht, ob ich vor denen den Hut ziehen soll oder ob das alles Deppen waren," erinnert sich Ernst Lorenzi. Fast die Hälfte der Teilnehmer musste aufgeben.

Verrückt auch die Premiere des Ötztalers im Jahre 1982. Damals glaubte kaum jemand, dass die Strecke vor Einbruch der Dunkelheit zu schaffen ist. Doch der Erste war nach 9:45 Stunden wieder am Ausgangspunkt in Sölden. Heute brauchen die schnellsten Männer etwa sieben Stunden für die Strecke, die schnellste Frau weniger als acht Stunden. Allerdings nicht immer sauber: Der Italiener Paulo Negrini, Sieger von 2009, war gedopt und wurde disqualifiziert.

Nur noch 48 Kilometer, aber fast 1800 Höhenmeter auf einer Strecke von 29 Kilometern hoch zum Timmelsjoch liegen vor mir. Immer öfter müssen Teilnehmer anhalten. Spätestens jetzt ist es ein Kampf gegen den inneren Schweinehund. "Ich glaub, ich fahr wieder zurück," sagt einer. Er hat sich auf der Wiese ausgestreckt, das Rad liegt neben ihm. Etliche schieben ihr Sportgerät. "Was mach ich eigentlich hier?", sagt ein anderer.

Ein paar Kehren noch, dann ist das Timmelsjoch erreicht. Fast drei Stunden habe ich von St. Leonhard bis auf das Dach des Ötztaler Marathons in 2509 Meter getreten. Die Abfahrt wird zum Genuss. Mit Tempo 75 rausche ich ins Tal. "Hier beginnt dein Traum." Das Plakat in Sölden hängt noch. 150 Meter weiter ist der Traum Wirklichkeit. Nach 11 Stunden, 42 Minuten und 24 Sekunden. Fast 1000 Starter habe ich hinter mit gelassen – ohne Sturz, ohne Krampf und am Ende mit erstaunlich lockeren Beinen. 110 Kilometer ging es bergauf, 9000 Kalorien habe ich verbraucht. Am nächsten Morgen ist das Timmelsjoch gesperrt, es liegen 40 Zentimeter Neuschnee auf der Passhöhe.

Ötztal

Ötztaler Radmarathon
Der 31. Ötztaler Radmarathon startet am Sonntag, 28. August 2011, um 6.45 Uhr in Sölden. Das Ziel wird nach 238 Kilometern durch Österreich und Italien über Kühtai, Innsbruck, den Brenner und den Jaufenpass und dem höchsten Punkt am Timmelsjoch mit 2509 Meter erreicht. Alle Straßen sind für den sonstigen Verkehr gesperrt.

Anreise
Das Ötztal liegt im Westen Österreichs im Bundesland Tirol. Erreichbar ist es von Norden kommend über die A7 Kempten/Füssen, weiter über den Fernpass nach Imst, von dort auf der B171 nach Sölden. Per Zug geht es bis zum Bahnhof Ötztal, von dort weiter mit dem Bus.

Anmeldung
Rund 5000 Starter sollen in diesem Jahr zugelassen werden. Seit dem 1. und noch bis zum 28. Februar kann sich jeder Interessent gegen eine Gebühr von 2,50 Euro anmelden, www.oetztaler-radmarathon.com. Am 4. März werden die Startplätze verlost. Bei Losglück muss das Startgeld von 89 Euro (zehn Euro für den Zeitnahme-Chip werden erstattet) bis Ende März überwiesen werden.

Sicherheit und Fitness
Es besteht Helmpflicht. Jeder Teilnehmer sollte sich der Herausforderung bewusst und entsprechend trainiert sein. Das Finisher-Trikot erhalten nur Radler, die das Ziel in der vorgegebenen Höchstzeit erreichen. Alle, die nicht bis 19.30 Uhr das Timmelsjoch passiert haben, werden aus dem Rennen genommen.

Allgemeine Informationen
Infos über Hotels, Pensionen oder Ferienwohnungen gibt es beim Ötztal-Tourismusverband, www.oetztal.com.