Ein altes Kursbuch belegt, dass im Kopfbahnhof bis zu 56 Züge abgefertigt wurden. Da gab es aber noch keinen S-Bahn-Tunnel.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Auf dem Weg vom virtuellen Tiefbahnhof hinauf zur real existierenden 16-gleisigen Zugstation hat Andreas Kleber ein Stück Bahngeschichte mitgebracht. Zwei alte Kursbücher sind's, in denen der leidenschaftliche Bahner aus Schorndorf entdeckt hat, dass in der Spitzenstunde zwischen 7und 8 Uhr morgens mehr als jene 37 Züge abfertigt werden können, die momentan im Stuttgarter Kopfbahnhof verkehren. Kursbücher sind, als Erklärung für die Jüngeren unter uns, katalogdicke Werke, in denen in der Vor-Computer-Ära sämtliche Zugbewegungen verzeichnet worden sind. Heute haben diese Bücher einerseits Seltenheitswert, andererseits dienen sie den Gegnern von Stuttgart 21 als Beweismittel in ihrem Kampf gegen das umstrittene Bahnprojekt.

 

Aus den Kursbüchern der Sommerfahrpläne 1968 und 1969 geht nämlich hervor, dass der Stuttgarter Hauptbahnhof damals 49 beziehungsweise 51 Züge in der Spitzenstunde beherbergt hat - "und zwar im Echtbetrieb, nicht in einer Simulation", sagt Kleber. Unterstützung erhält der Mitbegründer der "Horber Schienentage" von Egon Hopfenzitz. Der frühere Vorsteher des Stuttgarter Hauptbahnhofs hat ebenfalls im Archiv gekramt und dabei zwei historische Statistiken gefunden. Darin wird dokumentiert, dass am Mittwoch, 8. Juni 1966, zwischen 7 und 8 Uhr morgens sogar 56 Züge im Bahnhof abgefertigt worden sind. Am 10. Juli 1970 waren es 55 Züge.

Die Nennleistung des Kopfbahnhofs betrage immerhin 54 Züge, sagt Hopfenzitz. Diese Zahl hätte die Bahn seiner Meinung nach als Ausgangswert für die Vorgaben des Stresstests nehmen müssen - und nicht jene 37 Züge, die im Moment fahren. Die besagten 54 Züge zusammengenommen mit der von Schlichter Heiner Geißler geforderten Kapazitätserhöhung um 30 Prozent hätte laut Hopfenzitz das Ende von Stuttgart 21 bedeutet: "Dann hätte die Bahn mit 70 Zügen durch den Tiefbahnhof müssen. Das wäre nie gegangen."

Rockenbauch verfolgt eine andere Kommunikationsstrategie

Ein seit 1978 im Betrieb befindliches Detail könnte den Projektgegnern freilich noch Ärger bereiten in ihrer Rechnung. Damals ist der S-Bahn-Tunnel eingeweiht worden; seither fährt ein Großteil jener Bahnen, die bis dato als Nahverkehrszüge oberirdisch abgewickelt worden sind, durch das Untergeschoss des Hauptbahnhofs. Damit einher ging eine deutliche Reduktion des Zugaufkommens im Kopfbahnhof. "Ich weiß nicht, wie viele Züge durch den S-Bahn-Tunnel nach unten verlegt worden sind", gibt Andreas Kleber zu. Ein Kursbuch von 1978/79 habe er nicht parat. Ob Stuttgart je in die Situation käme, neben den S-Bahnen 49, 51 oder 56 Züge pro Stunde abwickeln zu müssen, könne er nicht sagen, so Kleber.

"Ja, aber wozu braucht man dann überhaupt einen neuen Bahnhof für vier Milliarden Euro?", fragte darob der Schauspieler Walter Sittler, der ebenfalls zugegen war beim Vortrag der Experten seiner Wahl. Im Gegensatz zu den Projektgegnern seien seiner Ansicht nach "die wesentlichen Verantwortlichen des Konzerns - Chef Grube und Technikvorstand Kefer - längst ausgestiegen aus der Diskussion über Fakten". Mehr noch: die Bahn leide unter einem "kommunikativen Borderlinesyndrom", grollte Sittler: "Nur die eigene Meinung zählt."

Dass dies bei den Gegnern ganz anders ist, will das Aktionsbündnis ja nun doch bei der Präsentation der Stresstest-Ergebnisse am kommenden Freitag beweisen. Dass die S-21-Gegner ihre Meinung schneller ändern könnten als die Kanzlerin, glaubt Sittler aber nicht. Es sei nicht verwerflich, "wenn man seine Meinung in Anbetracht von neuen Tatsachen ändert", sagte er stattdessen und empfahl der Bahn, "das auch zu tun".

Hannes Rockenbauch, der Sprecher des Aktionsbündnisses, verfolgte dagegen eine andere Kommunikationsstrategie im Blick auf die Wende der eigenen Haltung. Die grundsätzliche Kritik an dem Verfahren, das er selbst eine Showveranstaltung genannt hat, bleibe zwar bestehen, sagte er auf StZ-Anfrage. Weil aber viele Briefe eingegangen seien, habe man sich am Sonntag in einer viereinhalb Stunden dauernden Sitzung entschlossen, nun doch "die Bühne für unsere Argumente zu nutzen".