Roland Ostertag fordert, das Regenwasser nicht mehr in den Kanal einzuleiten, sondern damit einen neuen Nesenbach zu befüllen. Darüber hinaus hat der Architekt eine verwegene Idee.

Stuttgart - Roland Ostertag will einen Teil des Wassers aus dem Untergrund befreien. In Stuttgart ist es oft eingesperrt, es fließt durch endlose Kilometer des Stadtentwässerungssystems, ist aus dem Stadtbild an den meisten Stellen verschwunden. Ostertag, 82, weiß, wie das Wasser aus Stuttgart verbannt wurde. „Früher befand sich die städtische Metzgerei unmittelbar über dem Nesenbach.“ Für die Schlachtabfälle gab es eine schnelle Entsorgung: Über eine Klappe wurden sie direkt in den Fluss geworfen, wo sie mit dem anderen Unrat weiter durch die Stadt trieben. In der Frühzeit der Industrialisierung verwandelte sich Stuttgart deshalb in eine „Cloaca Maxima“.

 

Die Zeiten, in denen die Stuttgarter in der Nähe von Bächen und Flüssen die Nasen rümpften, sind längst vorbei. Fäkalien, Unrat und Jauche fließen heute durch Kanäle. Der Nesenbach wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Hauptsammler des Abwasser-Kanalsystems. Der Bach verschwand weitgehend aus dem Stadtbild, während viele Stuttgarter den großen Neckar fast vergaßen, der als Bundeswasserstraße dem Wirtschaftswachstum diente.

Roland Ostertag sieht die Zeit gekommen, um neu darüber nachzudenken, wie die Stadt mit ihrem Wasser umgehen sollte. Der Architekt ist ein streitbarer Geist in der Stadt: aktiv im Widerstand gegen Stuttgart 21, Autor eines Buchs über die hässlichen Bauten und Plätze Stuttgarts. Nun will er bewusst andere Seiten aufziehen, sein neues Buch heißt „Wasser in der Stadt: Konzept für ein schöneres Stuttgart“ (Peter Grohmann-Verlag, zehn Euro). Ostertag schildert darin, dass er zwar das dreckige Kanalwasser im Untergrund belassen will. Das saubere Regenwasser aber, das von Dächern und Straßen ebenfalls in den Kanal geleitet wird, soll an zentralen Stellen oben bleiben, beispielsweise an der Planie, beim Landtag und vor dem Lusthaus.

Das Regenwasser soll wieder oberirdisch fließen

Einer seiner verwegensten Vorschläge bezieht sich auf den Unteren Schlossgarten. Hier mündet der Nesenbach bisher in drei kleine Seen. Ostertag ist zum Ortstermin gekommen, er befindet sich in Gesellschaft von Enten und Schwänen. Schon heute bietet sich den Erholungssuchenden hier eine beeindruckende Natur- und Kulturkulisse mit den mächtigen Bäumen und dem Schloss Rosenstein – die Villa Berg ist auch nicht fern. Wenn es nach Roland Ostertag ginge, würde der regenwasserbefüllte Nesenbach an dieser Stelle verbreitert werden und trichterförmig in den Neckar fließen (siehe obere Visualisierung). Rund um dieses neue Wasserschauspiel in der Stadt könnten Liegestühle stehen, die Menschen könnten ihre Füße an heißen Sommertagen in den kühlen Fluss hängen.

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Von diesem neuen Freizeitgefühl ist Stuttgart jedoch noch weit entfernt: Derzeit mündet das Wasser aus dem sogenannten Hauptsammler nicht spektakulär in den Neckar, es fließt beinahe verschämt unterirdisch durch den Kanal. Wenn es stark regnet, sprudelt das Wasser in der Nähe der König-Karl-Brücke durch eine Öffnung im Beton in den Neckar. Um Ostertags Idee überhaupt eine Chance zu geben, müsste außerdem die Bundesstraße, die am Neckarufer entlang zur Wilhelma führt, in den Untergrund verlegt werden. Dabei haben die Bauarbeiten für den Rosensteintunnel noch nicht einmal begonnen.

Dennoch gibt es viele, die die Idee von Roland Ostertag charmant finden. Zu ihnen gehört Hans Werner Kastner, der Vorsitzende des Stadtplanungsforums Stuttgart. „Diesen Vorschlag eines Nesenbachdeltas finde ich positiv“, sagt Kastner, der sich seit langem damit beschäftigt, wie Stuttgart rund um seinen Fluss an Lebensqualität gewinnen könnte.

Viele gute Ideen sind in den vergangenen Jahren versickert

Vor 15 Jahren planten etliche Architekten, das Stadtplanungsamt und der Verband Region Stuttgart schon einmal die „Stadt am Fluss“ neu. Es ging unter anderem um Wohnen entlang des Neckars und darum, wie das „Grüne U“ in Stuttgart zu einem „Grünen X“ erweitert werden könnte, das den Cannstatter Kurpark mit einschließt. Die Ideen waren kühn, man dachte über eine internationale Bauausstellung nach.

Verwirklicht wurde von all den Plänen jedoch wenig. Noch immer ärgert sich Hans Werner Kastner beispielsweise über die Wasentristesse. Seinerzeit habe man vorgeschlagen, grüne Traversen über den Wasen zu ziehen, die den Volksfestbetrieb nicht gestört hätten. Die Verwaltung habe jedoch mit Desinteresse und Trägheit reagiert. Viele Ideen rund um den Neckar sind in den vergangenen Jahren schon versickert. Was in Stuttgart fließt, ist am Ufer oft bestenfalls der Verkehr.