Die Reihe „Stuttgart liest ein Buch“ ist in diesen Tagen Judith Schalanskys Roman „Der Hals der Giraffe“ gewidmet. Er handelt von den kleinen Fluchten einer Biologielehrerin. Anlass für einen naturkundlichen Spaziergang mit der Autorin durch die Stadt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Zeit ist ein relativer Begriff. Was sind 250 Millionen Jahre, wenn man abends um 19 Uhr im Rosensteinmuseum sein muss, um dort mit zwei Biologen über die Entstehung der Arten zu diskutieren? In die erste Frist passen die großen Tragödien der Naturgeschichte, Glanz und Elend der Saurier, die Entwicklung einer wunderbaren Tier- und Pflanzenwelt und der Aufstieg des Menschen zur alles dominierenden Spezies. Die zweite Frist ist geprägt vom infrastrukturellen Kampf ums pünktliche Dasein auf Stuttgarter Straßen.

 

Das sind ungefähr die großen Zusammenhänge, in denen sich die Autorin Judith Schalansky an diesem Nachmittag bewegt. Seit gut einer Woche steht sie, beziehungsweise ihr Roman „Der Hals der Giraffe“, im Mittelpunkt des Lesefests „Stuttgart liest ein Buch“. Schalanskys Protagonistin, die etwas widerborstige Biologielehrerin Inge Lohmark, setzt gegen die Verödung und Verblödung ihrer Lebenswelt die ewigen Wonnen der Natur und ihrer unbestechlichen Gesetzmäßigkeiten. „In der Natur hatte alles seinen Platz, und wenn vielleicht auch nicht jedes Lebewesen, so doch zumindest jede Art ihre Bestimmung: fressen und gefressen werden. Es war wunderbar.“ So klingt das Credo dieser eigenwilligen Partisanin der Evolutionslehre.

Ein gefallener Engel

„Wunderbar“ lautete auch Schalanskys Antwort auf den Vorschlag, gemeinsam jene Orte in der Stadt aufzusuchen, an denen Inge Lohmark wohl in ihrem Element gewesen wäre. Zum Beispiel das Museum am Löwentor, das sich in die tiefsten Zeitschichten versenkt, in denen der Mensch im großen Ganzen, wie Schalanskys Eltern vermutlich sagen würden, noch „Quark im Schaufenster war“. So nämlich pflegten sie sich auszudrücken, wenn sie von der Phase redeten, bevor ihre Tochter ins Leben getreten sei.

Doch zum Eigentümlichen unserer Zeiterfahrung gehört, dass wir uns auch noch dort wiederfinden, wo wir gar nicht vorkommen. So trifft die literarische Naturkundlerin gleich in einem der ersten erdepochalen Schaufenster des Löwentormuseums auf einen alten Bekannten aus Berlin, das zierliche Fossil eines Archaeopteryx’. „In Berlin wohnte ich lange direkt gegenüber dem Naturkundmuseum“, sagt Schalansky. Man muss sich den Archaeopteryx als eine Mischung aus Saurier und Huhn vorstellen, strittig, ob er jemals geflogen ist, auch wenn seine versteinerten Reste an eine harte Bruchlandung denken lassen. „Ein gefallener Engel“, findet die fantasiebegabte Betrachterin. Dagegen erinnert sie das agile Skelett eines anderen Urgeflügels an die Tänzerin Josephine Baker.

Sozialistische Sauriere

So einschüchternd die urgeschichtlichen Relikte eine menschenferne Daseinsspanne bezeugen, so inspirierend ist es, an der Seite der Autorin daran teilzuhaben, wie unser Bewusstsein von dem ihm Entzogenen Besitz ergreift. Es dichtet an der Erdgeschichte gewissermaßen mit. Denn natürlich sind auch Museen der Zeit unterworfen, manche der furchteinflößenden Saurierdrachen tragen mittlerweile eine nach neuesten Erkenntnissen toupierte Haartracht: „Frisurtechnisch eindeutig ein Punk“, ordnet Schalansky mit klarem Kennerblick einen vorsintflutlichen Bösewicht ein.

Schalansky wuchs in der mittlerweile ebenfalls einer vergangenen Zeitschicht zugehörigen DDR auf. Dort hatte der tschechische Maler Zdenek Burian das gängige Bild des Sauriers geprägt. „Da steckte viel sozialistischer Realismus drin, als Naturerzählungen sind seine Schöpfungen wissenschaftlich längst überholt, aber als Historienbilder funktionieren sie fantastisch.“ Ein Band der von ihr herausgegebenen „Naturkunden“-Reihe ist ihm gewidmet. Eingeschlossen in Schieferplatten – „dieses Material findet heute vor allem in gehobenen Badezimmern Verwendung“ – überdauern elementare Situationen. Auf einem der Ewigkeitsschnappschüsse wird ein Amphibienbaby aus dem Geburtskanal gepresst, auf einem anderen bezahlt ein Ur-Hai seinen übermäßigen Appetit auf Muscheln mit dem Tod. Aber ist die Vorstellung einer Welt ohne Menschen nicht schrecklich? „Das einzig Schreckliche ist doch, dass die alle nicht überlebt haben, obwohl sie so fähig waren.“ Überlebt haben im Schatten der Riesen kleine rattenartige Wesen. Ausgerechnet.

Der Pfau verbindet Kunst und Natur

Was heute noch kreucht und fleucht, kann man in der Wilhelma betrachten. Auch was so stachlig blüht wie der Goldkugelkaktus, halb Pflanze, halb Waffe. „Wir nennen ihn Schwiegermutterstummel, die Azteken brachten auf ihm Menschenopfer dar.“ Auch der Kaktus wurde mit einem „Naturkunden“-Band bedacht. „Orchideen kann jeder schön finden, bei Kakteen hat man immer das Gefühl, man müsse sich ihrer Erbarmen.“

Vor dem Pflanzenhaus stakst ein Pfau. „Er ist das Paradebeispiel dafür, dass sich nicht immer nur die am besten Angepassten durchgesetzt haben.“ Schönheit kann ein Überlebensvorteil sein. Mit einer Haube, wie sie so ähnlich Zirkuspferdchen tragen, wendet das eitle Tier seine Schritte in ihre Richtung und stößt einen spitzen Schrei aus. „Hier sehen wir die andere Seite der Natur: Luxus, Opulenz, Verschwendung.“ Und wie der Archaeopteryx Vögel und Reptilien in sich verbindet, schlägt die prächtige Schleppe des Pfaus einen Bogen von der Natur zur Kunst. Für Schalansky ist er der lebende Beweis für die Singing-for-Sex-Theorie, die in etwa besagt, dass Kultur zum Balzen dazugehört. Derjenige, der die schönsten Dinge treibt, hat bei Frauen die besten Chancen. Pianisten, Sänger und Rockstars können ein Lied davon singen.

Unser liebstes Gruseltier

Gegenbeispiele zum Pfau sind die Schlange („nun einmal dazu verdammt, das Böse zu personifizieren“), die schwarze Nacktschnecke („noch böser als die Schlange“), der unheimliche Albinowelz, der im Aquariendunkel aus der Scheibe glupscht, schließlich die ledrigen Bündel, die im Insektenhaus an einem Stumpf baumeln und sich als Flugfüchse herausstellen.

„Ein Freund hält mein Giraffenbuch für einen Vampirroman: Inge Lohmark hat etwas Zombiehaftes, alles ist am Aussterben.“ An einer Stelle sinnt die Protagonistin über die Verwandtschaft zwischen Mensch und Fledermaus nach: harte ängstliche Augen, der entsetzte Mund eines Neugeborenen, „dazu anatomisch identische Geschlechtsorgane, ein paar brustständige Zitzen, freihängender Penis, pro Jahr ein oder zwei Junge.“ Alles wie bei uns, vielleicht sind sie eben deshalb unser liebstes Gruseltier.

Behände wie ein Urpferdchen

Gruselig nimmt sich langsam angesichts der fortschreitenden Zeit auch die Vorstellung an die Abendveranstaltung im Rosensteinmuseum aus, die wartenden Biologen. Schalansky muss vorher noch in ihr Hotel am andern Ende der Stadt. Doch ein Abstecher zum Affenhaus will sie sich nicht nehmen lassen. Vorbei an einer kleinen Giraffe und sich lausenden Pavianen eilt sie dorthin, wo eine träge Gorillamama den Nachmittag damit ausklingen lässt, ihr Kleines beim tastenden Spiel zu bewachen. „Wie meine kleine Tochter“, sagt sie sehnsüchtig. Auch hier: Alles wie bei uns.

Im Flug verging dieser Ausflug durch Millionen Jahre Naturgeschichte. Endlos zieht sich der Weg zum Hotel und wieder zurück ins Rosensteinmuseum. Vor dem Eingang stehen die Biologen und schauen ins Weite. Es schlägt sieben Uhr. Behände wie ein Urpferdchen eilt Schalansky herbei.