Wie kann man Nichtwähler ansprechen? Wie die komplexe Welt erklären, ohne populistische Parolen zu benutzen oder Phrasen zu dreschen? Der StZ-Leserbeirat hat am Dienstagabend spannende Ideen für die Berichterstattung zur Bundestagswahl ins Spiel gebracht.

Böblingen: Carola Stadtmüller (cas)

Stuttgart - Martin Huttenlocher, von Beruf Steuerberater und stets meinungsfreudiger Leserbeirat aus Stuttgart, sprach aus, was wohl auch andere Zeitungsleser denken: „Ich glaube, dass die Falschen die Zeche zahlen, und das ist auch der Grund dafür, dass die populistischen Parteien Zulauf haben.“ Er und seine Mitstreiter des StZ-Leserbeirats haben sich am Dienstag im Innenstadtbüro der Redaktion intensiv mit dem Chefredakteur Joachim Dorfs, dem Politikchef Rainer Pörtner und dem Chef von Dienst, Matthias Schmidt, über die geplante Berichterstattung zur Bundestagswahl ausgetauscht.

 

Das Gremium Leserbeirat besteht aus 15 Männern und Frauen, am Dienstag waren nur einige verhindert, und die Gruppe trifft sich seit gut zwei Jahren immer zweimal im Jahr. Es geht stets freundlich zu, schließlich sind die Leser bekennende Zeitungsfreunde. Aber keiner nimmt ein Blatt vor den Mund, auch das gehört zur Freundschaft.

Huttenlocher begründete seine Schlussfolgerung. Die Welt sei so komplex geworden, dass keiner mehr durchblicke. Das führe zu großer Unzufriedenheit bei den Menschen, auch, weil sie vieles an ungerecht einstufen – ein Teil davon wähle deshalb rechte Parteien. Als Beispiele nannte er die Steuergesetzgebung, die ja schon lange keiner mehr verstehe, aber auch Arbeitsschutzbestimmungen oder Din-Normen im Bausektor. Diesen Bürokratiedschungel und der Frust, daran nichts ändern zu können, das müsse die Zeitung vor der Bundestagswahl aufgreifen.

In die „Vollkasko-Gesellschaft“ manövriert

Eberhard Keller, ein Verwaltungsprofi, hielt dagegen: „Wir haben uns doch selbst in eine Vollkasko-Gesellschaft manövriert.“ Wer kein Recht bekomme, klage. „Sie als Zeitung müssen erklären, woher der Wahnsinn kommt. Dann wird vieles klarer.“ Andrea Asche, Leserbeirätin und Hochschulmitarbeiterin, ergänzte: „Fragen Sie doch mal einzelne Berufe nach Vorschriften, Regeln und Gesetzen. Jeder kann Ihnen genau sagen, womit er zu kämpfen hat und unzufrieden ist.“

Aus Anregungen Themen machen, das will die Stuttgarter Zeitung durch die Arbeit im Leserbeirat: Dazu gehört etwa die Idee des Leserbeirats Andreas Bauer, eine Art „Folgekostenbilanz“ von politischen Entscheidungen zu errechnen. Oder auch die Vorschläge von Doris Helzle und Wolfgang Schimpeler: die Arbeit von Lobbyisten zu beleuchten und bei den deutschen Nachbarländern nachzufragen, wie sie die Wahl(-ergebnisse) sehen. „Oder zum Beispiel auch in der Türkei. Interessiert sich dort jemand für die Wahl bei uns?“, fragte Jutta-Beate Schmidt.

Für die Berichterstattung – nicht nur in Wahlkampfzeiten – in der Stuttgarter Zeitung finden alle Beiräte eine Sache wichtig: „Recherchieren Sie gut und selbst, und schreiben Sie das auch dazu“, forderte Andreas Bauer. „Wir rechnen damit, dass noch nie so viele florierende Gerüchte im Umlauf sein werden wie zur Wahl“, erläuterte Rainer Pörtner und kündigte an: „Das Prinzip Faktencheck werden wir extrem ausbauen und einbringen.“

Debatte über Inhalte einer aktuellen Zeitung

Neben der Bundestagswahl diskutierten die Leserbeiräte auch die Inhalte einer aktuellen Zeitung: Eine Blattkritik zum vergangen Samstag fand statt. Der Chefredakteur der StZ, Joachim Dorfs, hörte Lob wie Tadel. Der Leserbeirat Hans-Michael Obst kritisierte, dass die Texte immer wieder nicht halten, was die Überschrift ankündigen würden. Wolfgang Schimpeler gefiel an der Geschichte zur Polizeireform nicht, dass der Autor aus nicht-öffentlichen Informationsquellen zitiere. Für Journalisten ist das natürlich ein Pfund, mit dem sie gerne wuchern. Joachim Dorfs dazu ganz allgemein: „Es ist schon unser Ziel, unsere Leser über Themen zu informieren, von denen wir wissen, dass sie kommen. Wichtig daran sind zwei Dinge: die Informationen müssen stimmen, und sie müssen relevant sein.“

Begeistert sind die Leserbeiräte von der regionalen Reportage zur Kunstnacht gewesen. Generell seien eigene Veranstaltungen der StZ „einfach spitze“, so Andrea Asche. Exklusive Treffen sind natürlich auch zur Bundestagswahl geplant – die Redaktion versucht, den SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz und die Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Stuttgart zu holen.