Mercedes-Testfahrer Jürgen Merkwitza hat einen Job, um den ihn viele beneiden. Mit Freiheit und Abenteuer hat sein Arbeitsalltag allerdings nur wenig zu tun.

Stuttgart - Der erste Blick gehört dem Auto. Als Jürgen Merkwitza mit seinem Mercedes S-Klasse Coupé vor dem Pressehaus in Stuttgart-Möhringen vorfährt, ist der Flitzer mit einem 4,7 Liter großen V8-Biturbo-Motor der Star. Beschäftigte fixieren auf dem Weg zur Arbeit neugierig den Wagen, ein Vorserienmodell; einige schießen Fotos. Erst von September an wird das Coupé zu Preisen ab 125 000 Euro zu haben sein. Merkwitza aber darf schon jetzt ein Auto fahren, das für andere auf Dauer unerreichbar bleiben wird – und er bekommt auch noch Geld dafür, denn er ist Testfahrer. Das ist für viele, vor allem junge Männer, nach wie vor ein Traumberuf; für den Schwaben Merkwitza, gerade 49 Jahre alt geworden, nach 27 Jahren im Job übrigens auch immer noch: „Ich habe noch nie die Abteilung gewechselt, und einen anderen Job kann ich mir eigentlich überhaupt nicht vorstellen“, sagt er.

 

Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass das S-Klasse-Coupé mit Reutlinger Kennzeichen nicht nur brandneu ist und Fahrvergnügen verspricht, sondern auch ungewöhnlich: Die Lenkung ist auf der rechten Seite, wie bei Fahrzeugen in England, Indien oder Australien. Und damit macht sich der Mercedes-Testfahrer mit dem StZ-Redakteur links neben sich auf den Weg zum sogenannten Alb-Dauerlauf, auf den der Konzern alle seine Autos schickt, nicht nur in der Prototypen-Phase, wenn sie als verkleidete und verklebte „Erlkönige“ unterwegs sind, sondern auch noch dicht an der Serienfertigung; wenn immer noch gefeilt wird, zum Beispiel an der Abstimmung des Fahrwerks oder der Türjustierung.

Wie mit dem Motorrad in Schräglage

Auf dem Weg von Stuttgart Richtung Bad Urach und Reutlingen gibt es viele Kurven, Gefällstrecken, Kehren – in der Summe: Der Fahrer muss viel lenken, und das Auto kann unter unterschiedlichen Belastungen getestet werden. Und ständig ist Merkwitza unter Kontrolle. Rechts von ihm ist ein kleines Display angebracht, das verbunden ist mit einer Messanlage, die im Kofferraum untergebracht ist und Temperaturen, Drücke und Beschleunigungen misst; nach dem Ende der Testfahrt werden die Daten per Wlan zur Auswertung an die Fahrerprobung übertragen.

Merkwitza ist ganz entspannt, genießt sichtlich die Fahrt über die heimatlichen Straßen und demonstriert begeistert, wie die Carvingfunktion das S-Klasse-Coupé wie ein Motorrad in Schräglage durch die Kurve trägt. „Ich liebe die Schwäbische Alb“, sagt der gelernte Kraftfahrzeugmechaniker, der in Kirchheim/Teck geboren wurde, in Nabern aufwuchs und in Wendlingen wohnt. Das Display ignoriert er bei der Fahrt, ihm reichen die piepsenden Warntöne – schon passt er seine Fahrweise an. Auch bei Überholmanövern lässt er sich nichts anmerken, ganz so, als sei er ein britischer Urlauber auf deutschen Straßen: Rechts fahren, rechts am langsamen Lastwagen vor dem Mercedes vorbeischauen, den Verkehr hinten im Blick haben, nach links ausscheren und überholen – Merkwitza absolviert das Manöver routiniert, räumt aber ein, dass die Sache nicht ganz einfach ist. Heute Rechtslenker, morgen wieder Linkslenker, das mag Normal-Autofahrern als extrem erscheinen. Dazu gehört auch, dass die Autos mit Absicht auf die Neidlinger Steige gelotst werden, die für ihren Steinschlag berüchtigt ist. Aber Merkwitza kennt das und weiß zum Beispiel auch, wo in der Dämmerung regelmäßig die Rehe stehen. Dass sich mitten im Sommer aber plötzlich an einer Steigungsstelle dichter Nebel breitmacht, kommt auch für den Testfahrer überraschend – gut, dass das Auto mit einem Kollisionswarnsystem ausgestattet ist.

„Wir müssen das Gras wachsen hören“

Dass Testfahrer überdurchschnittlich gute Fahrer sein müssen, ist klar. Und sonst? Sie brauchen ein gutes Gehör: Was ändert sich am Abrollgeräusch in der Kurve? Welches Geräusch erzeugt die Carvingfunktion? Unabdingbar ist auch das berühmte „Popometer“, also das Gefühl für das Auto. Und: „Wir müssen das Gras wachsen hören“, sagt Merkwitza. Dazu gehört auch, bereits am Fahrstil zu erkennen, was der vorausfahrende Autolenker jetzt gleich tun wird. Das ist für Merkwitza kein Hexenwerk, sondern alles eine Frage der Routine: „Lastwagenfahrer können das auch.“

Merkwitza kennt natürlich die Diskussion über schreckliche Unfälle mit Testfahrern, die oft in der Forderung gipfeln, solche Fahrten ganz von der Straße auf Teststrecken zu verbannen. Wenn die Daimler-Testrecke in Immendingen im Kreis Tuttlingen 2017 fertig ist, dann werden vier von fünf Fahrten, die jetzt noch auf öffentlichen Straßen stattfinden, auf das Areal des Prüf- und Technologiezentrums verlegt. Hier die Teststrecke, dort die Straße: Merkwitza verwendet dafür das Begriffspaar digital-analog. „Die Teststrecke ist was Digitales“, sagt er und meint damit, dass sie an eine Computersimulation erinnert, die die Realität fast vollständig nachbilden kann, aber eben nie komplett. „Die Straße ist jeden Tag anders“, weiß der Testfahrer und führt als Beispiel an, dass vor einem ein Laster fährt und Erde verliert. Und während er noch nach einem weiteren Beispiel sucht, weicht er reaktionsschnell einem dicken Ast auf der engen Straße aus, den das frühherbstliche Albwetter an diesem Sommermorgen auf die Straße befördert hat.

Plötzlich schaltet der Trainer das ABS ab

Das Thema rasende Testfahrer ist Merkwitza sichtlich unangenehm. Da wird er einsilbig und verweist darauf, dass es für Hochgeschwindigkeitsfahrten Teststrecken in Papenburg/Emsland oder in Nardo in Italien. Daimler hat nach Unfällen mit Todesfolge die Vorschriften verschärft. Für Fahrzeugdauerläufe gibt es jetzt die Vorgabe, dass nachts auf Autobahnen auch bei fehlendem Tempolimit nicht schneller als 130 km/h gefahren werden darf. Das ist die Richtgeschwindigkeit; wer schneller fährt, kann nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs bei einem Unfall in Mithaftung genommen werden. Tagsüber gilt, was Merkwitza so beschreibt: „Wir werden angehalten, uns unauffällig im Verkehr zu bewegen, sozusagen mitzuschwimmen.“ Die Devise laute, defensiv zu fahren. Dass ihm das wohl nicht allzu schwerfällt, zeigen sowohl der Fahrstil des verheirateten Vaters von zwei erwachsenen Kindern als auch sein privater Fuhrpark: eine A-Klasse und ein Smart.

Die echten Belastungen, die Extreme, erleben er und seine Kollegen aber weniger auf der Straße als vielmehr beim Training auf der Prüfstrecke. Da wird es alle zwei Jahre ernst. Um zu wissen, wie der Testfahrer mit dem Fahrdynamiksystem zurechtkommt, sitzt neben ihm ein Trainer, der einfach mal ohne Vorankündigung das ABS abschaltet und schaut, wie der Mann das Auto dann in Extremsituationen bewegt. Im Übrigen reine Theorie: „Ich habe in all den Jahren noch nie einen Systemausfall erlebt“, sagt Merkwitza, dessen Berufsleben sich aber nicht nur zwischen Testrecke und Alb abspielt. „Ich bin gerne in der Welt unterwegs“, sagt er; Gelegenheit dazu gibt der sogenannte Welt-Dauerlauf, bei dem gegenwärtig Fahrzeuge in Dubai im Einsatz sind. Merkwitza war auch schon mal dabei und erinnert sich lebhaft an eine Testfahrt mit der S-Klasse in Oman, als die Araber gestaunt haben, dass ein Auto ohne Allradantrieb durch den Wüstensand kommt. An die Temperaturen von 50 Grad erinnert sich Merkwitza freilich weniger gerne.