Es ist eine der größten Kundgebungen in der Geschichte Frankreichs. Hunderttausende marschieren schweigend durch das Zentrum von Paris und setzen ein Signal der Verbundenheit mit den Opfern der islamistischen Terroranschläge.

Paris - W

 

er noch Platz dazu hat, reibt sich verwundert die Augen. Die anderen schauen einfach nur fassungslos umher. Fassungslos hatten die meisten der hier auf dem Bahnsteig der Pariser Metro-Station Réaumur zusammengepferchten Menschen am vergangenen Mittwoch verfolgt, wie Terroristen die Redaktion des Satireblattes „Charlie Hebdo“ überfielen und ein Blutbad anrichteten. Fassungslos starren sie nun auf die regungslosen Menschenmassen vor und hinter ihnen. Zum Place de la République wollen die hier Versammelten gelangen.

Die französische Nation wollte sich dort um 15 Uhr treffen, um den Terror zu verdammen, Toleranz und Freiheit hochleben zu lassen, die Meinungsfreiheit zumal. Doch daraus wird so schnell nichts. Für die Nation ist der Platz zu klein. Nicht einmal das Pariser Stadtzentrum kann sie fassen. 14 Uhr ist es erst, und der Rückstau reicht bereits bis zur Metro-Station Réaumur. Die nächsten drei U-Bahnhöfe sind gesperrt, nachdem die sich dort stauenden Menschenmassen jegliches Ein- und Aussteigen unmöglich gemacht haben. „Dann demonstrieren wir eben hier“, sagt Claudine Onfray, eine beleibte Dame im knallroten Mantel.

Ein paar Meter vor ihr hat es jemand geschafft, einen Bogen Papier unbeschadet am Kopf des Vordermanns vorbei in die Höhe zu recken. Im Dunkel des von nur wenigen Neonröhren erhellten Metroschachts ist die Inschrift nicht zu erkennen. Er habe mit Bleistift eine Karikatur aus „Charlie Hebdo“ abgepaust, erläutert der Mann seine Geste. Claudine Onfray sagt, sie glaube zu träumen. Dem terroristischen Albtraum folge nun noch ein Traum, ein schöner diesmal. Was sie sich als überzeugte Katholikin immer gewünscht habe, dass nämlich alle Franzosen, ob Muslime, Juden oder Christen, gegen das Böse in der Welt zusammenstünden – nun werde es wahr. „Sie werden sehen“, sagt sie. „Diese Bewegung für Toleranz und Demokratie wird sich ausbreiten wie ein Ölfleck auf einer Papierserviette.“

Irgendwann kommt so etwas wie ein Marsch zustande

Kurz nach 15 Uhr ist es, als sich die Menschenschlange dann doch aus dem U-Bahn-Schacht windet. Und irgendwann kommt so etwas wie ein Marsch zustande, auch wenn es kein Schweigemarsch ist, zu dem die Spitzen von Gewerkschaften, Parteien und Religionsgemeinschaften eingeladen haben. Jeanette steht am Place de la République. Sie lächelt. Aber das Lächeln erstirbt, als sie sich näher vorstellt. Aus dem Senegal stammend, Muslimin, Bewährungshelferin für straffällige Jugendliche. Und als sie die Frage vernimmt, ob diese wunderbare Verbrüderung der Franzosen aller Hautfarben und Glaubensbekenntnisse über den Tag hinaus Bestand haben werde, steigt Zorn in ihr auf.

Sie schüttelt den Kopf, so heftig, dass ihre großen Ohrgehänge wie Glockenklöppel hin und her schwingen. „Wenn die Politiker und Medien nicht entschlossen nachlegen, wird sich gar nichts ändern“, prophezeit sie. „Wenn ich bei meiner Arbeit sehe, wie junge schwarze Musliminnen wegen Hautfarbe, Geschlecht und Religion gleich dreifach benachteiligt werden, wird mir nur noch schlecht.“ Wer sich zum Koran bekenne, gelte in den Augen vieler Franzosen als Terrorist. „Die muslimische Gemeinde Frankreichs hat das Gefühl, von den Terroristen eine schwere Last aufgebürdet bekommen zu haben“, hatte Said Branine nach den Anschlägen der vergangenen Woche gesagt, Gründer der islamischen Info-Website Oumma.com. Er befürchte, dass die Islamophobie weiter zunehmen werde. Drei Moscheen sind in den vergangenen Tagen von Unbekannten attackiert worden.

Eine Schülerin stimmt ein Lied an

Ein paar Meter weiter streckt ein Familienvater ein Fähnchen in die Höhe. „Wir haben es selbst gemacht“, sagt er und blickt zu seiner Tochter. Das in den vergangenen Tagen in Frankreich so oft in den Himmel gereckte Bekenntnis „Je suis Charlie“ ist darauf in Kinderschrift zu lesen. Der Vater hat den Rest beigesteuert: die Farben der Trikolore, die goldgelben Sterne der EU-Flagge. „Ich habe ,Charlie Hebdo‘ nie gekauft und das wenige, was ich gesehen habe, fand ich geschmacklos“, sagt der beim Großbauunternehmen BTP beschäftigte Mann. „Aber in Frankreich soll jeder sagen und schreiben dürfen, was er will.“ Eine Schülerin stimmt ein Lied an. Ein „tube“ sei es, sagt sie, ein Hit. Mit „Charlie Hebdo“ habe er nichts zu tun. Aber sie fühle sich wahnsinnig wohl auf der Demo nach dem Schrecken der vergangenen Tage und müsse ihrer Freude irgendwie Luft machen.

Auf dem Pariser Place de la République ist nun ebenfalls kein Durchkommen mehr. Innen- und Verteidigungsministerium haben aus Angst vor neuerlichen Terroranschlägen 4200 Polizisten in Marsch gesetzt und 1350 Soldaten. In Tarnanzügen, die Schnellfeuerwaffe im Anschlag, halten die Militärs Wacht über eine regungslose Menschenmenge. Irgendwo weit weg an einer von hier aus nicht einmal zu erahnenden Spitze des Zuges versucht sich die deutsche Kanzlerin Angela Merkel neben Staatschef Hollande an der ungewohnten Rolle der Demonstrantin. Großbritanniens Premierminister David Cameron, sein italienischer Kollege Matteo Renzi und Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy üben sich hinter der Kanzlerin ebenfalls in Protestkultur.

Merkel lädt noch am Nachmittag in die Botschaft ein

Ein Blick auf eine soeben eingehende SMS der deutschen Botschaft legt freilich den Verdacht nahe, dass sich Merkel schnell wieder abgesetzt hat. Um 15.45 Uhr bitte die Kanzlerin zu einem Pressetermin in die Räume der deutschen diplomatischen Vertretung, meldet das Handy. Es folgt die Nachricht, dass Merkel nach kurzer Demonstrationseinlage in der Botschaft eingetroffen ist. Laurent Joffrin ist nirgends zu entdecken. Irgendwo in den Menschenmassen, die sich über drei verschiedene Boulevards dem Place de la Nation entgegenschieben, muss er aber sein. Er hat fest versprochen zu kommen.

Das politische Urgestein der französischen Presselandschaft hat wieder einmal die passenden Worte gefunden. Freiheit, hat der Chefredakteur der Zeitung „Libération“ gesagt, sei wie die Luft zum Atmen. Wenn sie da sei, nehme man sie kaum war. Wenn sie aber schwinde, werde man sich ihres Werts bewusst und tue alles, um sie zu erhalten. Joffrin hat nicht nur geredet, sondern auch gehandelt. Er hat den Kollegen von „Charlie Hebdo“ Asyl angeboten. Ein paar Straßenecken weiter sitzen die Überlebenden des Massakers vom vergangenen Mittwoch in den Räumen von „Libération“ an einem großen Tisch und zeichnen die letzten Karikaturen für die nächste Ausgabe des Satireblattes. Die Zeit reicht diesmal nur für acht anstatt der üblichen 16 Seiten. Aber die geplante Auflage von einer Million stellt alles in den Schatten, was „Charlie Hebdo“ in den 44 Jahren seiner Existenz zustande gebracht hat.

Frankreichs Intellektuelle melden sich zu Wort

Nicht nur der linke Vordenker Joffrin lebt in diesen Tagen der Revolte gegen den Terror auf. Frankreichs Intellektuelle, die sich den Vorwurf anhören mussten, sie hätten abgedankt, seien unfähig, einer orientierungslosen Nation Wege aus Wirtschafts- und Identitätskrise zu weisen, melden sich zurück. Da appelliert etwa der Philosoph Bernhard-Henri Lévy voller Schärfe an die Verantwortlichen der Nation, nicht länger die Augen zu verschließen vor dem Krieg, dem die Journalisten „Charlie Hebdos“ zum Opfer gefallen seien.

Es gelte Schluss zu machen mit der Verharmlosung des Islamismus als einem Symptom sozialen Elends, es gelte, den Islam entschlossen vom Islamismus zu befreien. Und der Soziologe Edgar Morin ruft dazu auf, den gesellschaftlichen Zerfall aufzuhalten. Angst zersetze die Nation, Franzosen christlicher Herkunft, arabischer und jüdischer Herkunft, sie alle lebten in wachsender Angst. Die gemeinsame Besinnung der Franzosen auf die sie verbindenden Grundwerte der Republik, wie sie an diesem Sonntag gelingt, ist für Morin ein kaum für möglich gehaltener Fortschritt. Ob er von Dauer sei, bleibe abzuwarten.

Aber noch sind die Menschen beseelt, ja berauscht von diesem sich nur noch selten einstellenden Gefühl nationaler Einheit. Louis Crocq nennt es „ein tiefes, archaisches, dunkles Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft“. Der Psychiater, der Soldaten bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse hilft, kennt es aus seiner täglichen Arbeit. Es stelle sich in gefährlichen Momenten ein, sagt er, könne ganze Revolutionen auslösen. Der Experte für Kriegsneurosen weiß freilich auch, dass es wie alle Gefühle irgendwann vorübergeht. Gut möglich, dass dem Rausch dann der Kater folgt. „Die Franzosen haben am 7. Januar ihre Sorglosigkeit verloren, ähnlich wie die Amerikaner am 11. September“, befürchtet Crocq.