Auf der Seebühne in Bregenz schont Marco Arturo Marelli Prospekte und Maschinen nicht, um aus der Puccini-Oper „Turandot“ ein ganz großes Spektakel zu machen. Und dennoch gelingt ihm das Kunststück einer subtilen Inszenierung.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Bregenz - Wie passt das zusammen? Kurz vor der Premiere auf der Bregenzer Seebühne spricht der Regisseur Marco Arturo Marelli verhalten in die Kamera: „Ich möchte eigentlich weg vom technischen Spektakel. Ich möchte wieder mehr die Oper erzählen.“ Dann beginnt am Mittwochabend seine Inszenierung von Giacomo Puccinis „Turandot“ – und bereits nach zehn Minuten muss man zu Protokoll nehmen: So viel Spektakel wie hier war selbst in Bregenz noch selten. Das stellt selbst die „Zauberflöte“ aus den beiden Vorjahren noch in den Schatten!

 

Der Schweizer Marelli hat auch das Bühnenbild am Bodenseeufer entworfen, und so geht der Sturm an Bildern und Eindrücken gleich hier los. Die Chinesische Mauer schwingt sich von links nach rechts, derart geformt, dass man darin auch den Oberkörper eines Drachen nebst Kopf erkennen kann. Rechts oben thront als glühender Sehnsuchtsort ein knallroter Teepavillon, derweil von hinten nach vorn lange Reihen von Terrakotta-Kriegern in Richtung Publikum marschieren, dabei Reihe für Reihe immer tiefer im Bodensee versinkend, so dass von den vordersten nur noch die Köpfe oder Schöpfe aus dem Wasser ragen.

Das allein sind schon starke Ansagen. Aber als die Oper dann los- und die Bühne in Betrieb geht, kommt es noch entschieden doller: In der Mitte dreht sich die Spielfläche, eröffnet weitere Räume und Verliese, präsentiert nach oben hin wie bei einer Muschel ein Klappdach, welches gleich darauf mit Videobildern bespielt wird. Von links kommt gemächlich ein Schiff mit leuchtend-verhülltem Inhalt, rechts oben ziehen weiße Lampions feierlich zum Gipfel, Fahnen werden geschwungen, mit Bändern wird getanzt, Feuerakrobaten und Kampfsportler sind unterwegs, rechts wird ein Delinquent zum Schafott geführt, links fällt ein toter Leib ins Wasser.

Der Theaterzauber ist durchdacht

Aber gerade, als man denkt, die große Produktion der siebzigsten Bregenzer Festspiele, der ersten Saison unter Leitung der neuen Intendantin Elisabeth Sobotka, erschöpfe sich womöglich im rein dekorativen Bilderbogen zur dominant-dramatischen Musik – just da stellt man überrascht fest, wie absolut durchdacht der ganze Theaterzauber hier ist, wie souverän Marelli seinen sturmgewaltigen Bilderflash setzt und in jedem Augenblick unter strenger Kontrolle hält. Nichts ist hier einfach nur Effekt. Alles dient tatsächlich einem Ziel, nämlich spannend und überzeugend eine große, eine sehr schlimme Geschichte zu erzählen: eine Geschichte von Macht und Gewalt, die vielleicht, wenn Träume wahr würden, in Liebe enden könnte.

So sehr die Bregenzer „Turandot“ mit Mauer und Terrakotta die Erwartungen des Publikums an ein letztlich exotisches Märchen zu nähren scheint, so konsequent bricht Constance Hoffman mit ihren Kostümen diese für jede Puccini-Inszenierung so tödliche Eindimensionalität auf. Es ist ein wilder Stilmix, den wir hier zu sehen bekommen, es geht einmal quer durch die Kulturen und Jahrhunderte. Das chinesische Volk sieht grau und gleichförmig aus wie zu den schlimmsten Zeiten von Maos Kulturrevolution. Ein anderer Teil des Volkes scheint aber auch den Großstadt-Zerrbildern aus den zwanziger Jahren eines George Grosz entstiegen zu sein. Einige Kriegsknechte stammen offenbar aus einem „Star Wars“-Film, andere treten im tiefschwarzen SS-Style auf. Die Minister tanzen mal als bunte Harlekine herum, mal, wenn die Köpfe der Delinquenten versorgt werden, als mausgraue Archivare mit Metzgerschürze.

Verängstigtes und berauschtes Volk

Macht und Terror sind hier nichts Exotisches, sondern sie sind historisch-real, also auch aktuell, durchziehen die Zeitläufte und die Albträume der Menschen bis zum heutigen Tag. Mit ihrem grausamen Rätselspiel ist die Prinzessin Turandot nur eine unter vielen – und das Volk ist vom blutigen Spektakel immer neuer Exekutionen verängstigt, aber auch berauscht. Der Terror erschrickt und fasziniert zugleich. Eine der überzeugendsten Lösungen, die der Regisseur Marelli für seine Erzählung findet, ist diese: Das, was den Prinzen Calaf von einem Moment zum nächsten in Liebe zu Turandot entbrennen lässt (während doch die weitaus nettere Sklavin Liù gleich neben ihm steht), das ist nicht Turandot als Wesen – sondern die Inszenierung ihrer Macht. Es ist die Faszination, der giftige Glanz der Willkür. Es ist das Spektakel. So wie sich uns ja auch dieser Abend an der Oberfläche präsentiert, als großes, buntes, knalliges Spektakel, bei dem man wie nebenbei zwei Stunden lang ganzen Reihen von Soldaten ungerührt beim Ersaufen zuschauen kann. Ganz schön schlau, dieser Marelli.

Das ist große Oper für Augen und Ohren, aber eben auch fürs Hirn. So, wie es Giacomo Puccini schon in seiner Musik angelegt hat, die mit ihrer Farbigkeit und Drastik den Wohlklang und die Üppigkeit auf der scharfen Schneide der Moderne balancierend immer wieder bis kurz vor den Abgrund führt. Der Dirigent Paolo Carignani und die Wiener Symphoniker spielen dies klar und strukturiert, gar nicht aufgeschäumt, auch bei den Lautstärken bleiben sie eher dezent.

Gesang, der ins Herz trifft

Musikalischer Star des Abends ist die aus China stammende Sopranistin Guanqun Yu als Sklavin Liù, die niemals gefühlig, sondern quälend exakt ihre Folterszene und ihren Opfertod durchsteht – Gesang, der direkt ins Herz trifft. Nein, sie verrät den Namen Calafs nicht, dieser verrät ihn Turandot im abschließenden großen Duett schon selbst. Anders als Yu sind Mlada Khudoley als Prinzessin und Riccardo Massi als Prinz die enormen Anstrengungen ihrer Partien immer wieder anzumerken. Am Ergebnis des großartigen Gesanges ändert das wenig. Und, ja, zum Auftakt des dritten Aktes ist auch „Nessun dorma“ fehlerfrei und bewegend zu erleben. Alles gut.

Puccinis Komposition endet beim Schicksalsduett. Er scheiterte am Schluss. Der Komponist wurde nicht fertig mit dem Problem, ob es tatsächlich denkbar ist, mittels Liebe den Teufelskreis von Macht und Terror zu durchbrechen. Marco Arturo Marelli treibt diese Ungewissheit in diesem Duett bis zum schmerzhaften Punkt – um dann fidel jenes Ende zu inszenieren, das der Komponist Franco Alfano zweifellos mit besten Absichten nach Puccinis Tod hinzufügte. Da wird es dann auch in Bregenz Friede, Freude, Glückskeks: Große Drachen tanzen, plötzlich sind alle Menschen weiß gekleidet, Wasserfontänen steigen, Lampions schweben zum Himmel. Das ist für eine Seebühnen-Produktion ein fulminanter Schlusspunkt. Aber Marelli treibt es derart dicke, dass allen klar sein müsste: mit dem, was Puccini in seiner Oper zuvor beschäftigte, hat all das nur bedingt zu tun. Das ist ein anderes Theater. Es tut nur so. Riesenbeifall am Ende des Abends. Glückliches Bregenz.